Stadtflüstern: Hohenemser Senior:innen erzählen ihre Lieblingsorte
„Ich soll euch also an meinen Lieblingsort führen? Ich soll mich vor euch outen!“, lacht Toni Amann. Hoch oben auf dem Plateau der Schlossruine Hohenems erzählt er einer kleinen Gruppe Verbündeter und gleichzeitig doch der ganz großen Öffentlichkeit seinen Lieblingsort, den Schlossberg.
Gemeinsam mit dem Büro für Gemeinwesen in Hohenems, der Stadt Hohenems und der Initiative ‚Geborgenheit in Ems‘ hat das Literaturhaus Vorarlberg elf Senior:innen im Rahmen des Projektes ‚Stadtflüstern‘ an ihren Lieblingsplätzen zum kreativen Schreiben und zum Erzählen eingeladen. Begleitet von der Vorarlberger Autorin Erika Kronabitter und unterstützt von Stadträtin Erika Kawasser haben sich die Teilnehmer:innen im Alter von rund 70 bis 93 Jahren mit dem Ranzenberg, dem Gsohl, dem Ginkgo neben dem Rathaus Hohenems oder auch der Brogers Kapelle zu ganz unterschiedlichen Orten in Hohenems auf den Weg gemacht. Dort gaben sie humorvolle wie berührende, vor allen Dingen aber sehr persönliche Einblicke in ihre Lebensgeschichten, die sich rund um ihren Lieblingsort ranken.
Das Projekt führt uns zum Brunnen im Jüdischen Viertel, der vor vielen Jahrhunderten ein wichtiger sozialer Ort für die Bevölkerung der Stadt war und bis heute für Edmund Banzer ein besonderer Platz ist. Ein Brunnen, der die Namen der Anwohner:innen trägt und damit an Mägde und Knechte ebenso erinnert, wie an Kaufleute oder Reformer:innen dieser Zeit. Wir besuchen auch das Alte-Zeiten-Museum, das in einem 400 Jahre alten Holzhaus im alten dörflichen Kern von Hohenems steht und Einblick in das Leben der Menschen um 1600 gibt. Anfang des 20. Jahrhunderts haben in diesem Haus Ingrids Rupitz‘ Großeltern gewohnt. Sie erzählt von dem Kachelofen, auf dem Wäsche getrocknet und auf den Kleinkinder zum Schlafen gelegt wurden, von ihrem Großvater, der Füdler gebaut hat – kleine, niedrige Schlitten für eine Person, aber mit zwei Kufen. „Damit han i net glei gut fahra künna. Do bin i des u oder andre mol scho igschossa“, lacht die betagte Dame, die in dieser Woche keinen Weg scheut, sei er auch noch so hoch, steil oder unwegsam. Sie ist bei allem mit voller Freude dabei.
An jedem Ort lädt die Autorin und Obfrau der Literatur Vorarlberg, Erika Kronabitter, die Senior:innen zum Erzählen ein. Danach beginnt das Schreiben – unter freiem Himmel, mit dem Blick in die Weite, in der Gruppe oder allein im Schatten. Manchmal an einem kleinen Tisch, den wir mitgenommen haben, manchmal in einem privaten Garten, wie ihn uns z. B. Franz Sauer spontan geöffnet hat, manchmal mit dem Block auf den Knien. Am Ende der Schreibeinheit werden die entstanden Textfragmente und Textskizzen der Gruppe vorgelesen. Es gibt von allen Seiten positive Bestärkung, Wertschätzung und Ideen, wie ausgewählte Stellen noch ausgearbeitet werden könnte. Erika Kronabitter führt die Schreibgruppe immer wieder auf feine stilistische Fährten, die in den Texten der Gruppe bereits angelegt sind und mit ein wenig bewusster Verstärkung große Wirkung entfalten können.
Kurt Reinhard führt uns zum Stua im Ortsteil Reute von Hohenems und damit zu einem riesigen Fels mit dünner Grasnarbe. Oben im Dickicht des Wäldchens, das wir tapfer erobern und das nur verstohlene Blicke auf das Tal zulässt, stoppt er plötzlich an einer nur für ihn erkennbaren Stelle. Hier erzählt er uns von einer besonders berührenden Erinnerung an seine inzwischen bereits verstorbene Frau Elisabeth. Katharina Fenkart führt die Gruppe schließlich auf den Breitenberg. Neben liebevollen Erinnerungen an ihren Mann, machen das stimmungsvolle Spiel des Sonnenlichts durch die Bäume, die Ausblicke und die Einblicke, die der Berg durch Einrisse freigibt, diesen Ort für Katharina zum Lieblingsplatz. Alle zu den Lieblingsorten entstandenen Texte lesen die Autor:innen wenige Tage später selbst im Tonstudio TonZoo in Dornbirn ein und überraschen uns mit hoher Professionalität.
Die unbeschwerten und höchst amüsanten Schilderungen von Hannelore König, die ihre Kindheitsjahre im heutigen Rathaus verbracht hat, zeigen die ganze Bandbreite der erinnerten Geschichten auf, die unter der Oberfläche der Stadt darauf warten, erzählt und gehört zu werden. Die langjährigen Freundinnen Josfine Fenkart und Maria Inama erinnern sich auf dem Schwefelberg an Zeiten, in denen ihre Kinder klein waren und auf dem Schwefelberg noch unbeobachtet Abenteuer riskieren konnten. Die Tour auf den Schwefelberg hat viele Jahre zu ihrem Alltag gehört – auch im Winter mit Spikes unter den Schuhen. Zwei bewegende Lebensgeschichten, die einmal mehr zeigen, was Frauen in den vergangenen Jahrzehnten geleistet haben, erzählen Doris Waibel auf dem Gsohl und Herta Bösch an der Brogers Kapelle.
Über den Sommer werden alle Tonaufnahmen sorgsam aufbereitet. Im Herbst schließen die Senior:innen das Projekt ‚Stadtflüstern‘ dann mit einem letzten Besuch ihrer Lieblingsorte ab. Im Gepäck haben sie ihre Geschichten, die in Form eines QR-Codes wieder an die Orte zurückwandern, an denen sie entstanden sind. Wer die Orte aufsucht und die Codes mit dem Handy scannt, kann über die Stimmen der Senior:innen den jeweiligen Ort im Spiegel der vergangenen Jahrzehnte auf ungewöhnliche Weise hören und erleben.
Dieses Projekt ist eine besonders schöne Kooperation mit dem Büro für Gemeinwesen und der Stadt Hohenems mit Unterstützung der Initiative ‚Geborgenheit in Ems’ sowie der Aktion Demenz.
Wir danken dem Alte-Zeiten-Museum für das Öffnen des Museums an einem Tag, an dem das Haus eigentlich geschlossen ist und für die herzliche Gastfreundschaft. Danke an Franz Sauer, der uns an einem heißen Tag seinen Privatgarten gegenüber dem Brunnen im Jüdischen Viertel geöffnet und uns damit ein Schreibplätzchen im Schatten geschenkt hat. Ein Dankeschön geht auch an Silvia und Bernd auf der Alpe Gsohl, Andrea und Herbert auf der Alpe Ranzenberg und an Christine auf dem Schwefelberg für eure Offenheit, die schönen Gespräche und eure Gastfreundschaft!
Danke an Bernhard Belej von TonZoo in Dornbirn, der stets mit feiner Hand und in aller Ruhe das Beste aus allen Stimmen herausholt! Ein besonderes Dankeschön geht an die Hohenemser Stadträtin Erika Kawasser, die die Gruppe als beherzte Rikscha-Taxifahrerin, als unerschrockene bergerfahrene Allrad-Auto-Lenkerin, mit Jause, Engagement und noch mehr Herz an alle Orte begleitet hat. Ein großer Dank gilt der Autorin Erika Kronabitter, die den gesamten Schreib-, Erzähl- und Erinnerungsprozess so feinfühlig begleitet hat, dass die Schreibfreude überhaupt erst entstehen und die schönsten Geschichten wachsen konnten.
Das Stadtflüstern macht schlafende Geschichten rund um verschiedenste Lieblingsorte der Hohenemser Bevölkerung hörbar und trägt sie an die Oberfläche. Nach den Schüler:innen der damaligen 3. Klasse der MS Hohenems Herrenried haben die Senior:innen das Projekt nun um ihre Geschichten erweitert. Wir führen das Stadtflüstern bis zur Eröffnung des Literaturhauses Vorarlberg mit weiteren Hohenemser:innen fort, lassen es noch ein wenig lauter werden und freuen uns im Rahmen des Eröffnungsjahres des Literaturhauses auf eine öffentliche Stadtflüstern-Lesung mit den Teilnehmer:innen des Projektes! Wer jetzt schon neugierig ist, kann sich mit dem Stadtflüstern-Stadtplan, erhältlich im Stadtmarketing Hohenems, ausrüsten und auf den Weg gehen oder hier klicken!