Datum
16.07.2020
Cara Roberta.
Ein Briefwechsel zwischen Unbekannten. Dragica Rajčić und Julia Weber
Kategorie
Projekt
Schlagworte

14. Juli 2020

Liebe Dragica

In der Logik unseres Briefwechsels, einer von mir gefühlten und keiner errechneten, hätte dein letzter Brief der Schluss sein können. So fühlt es sich an, ich danke dir für diesen, letzten Brief, aber nun sitze ich wieder einmal hier in der roten Fabrik, sehe hinaus auf den See, der aufgewühlt ist von schwimmenden Kindern über ihm ein Himmel mit weichen, kleinen Wolken und ein junger Mann, der mit sich selber spricht. Ich schreibe dir. Das Gefühl des Abgeschlossenen macht es nicht leicht und dennoch freue ich mich noch einmal nach Worten zu suchen für dich und eine verschwommene Aussenwelt. Dann ist es vorerst vorbei. Eigentlich, so denke ich, dürfte er nicht enden. Danach fahre ich in den Norden von Deutschland, zu den Eltern meiner liebsten Freundin. Dort werden wir unter dem Nussbaum sitzen, wenn die Sonne scheint und in der Stube, wenn es regnet. Ich hoffe auf ein Gewitter. Und auf die Schafe auf der Weide. Auf Boule spielen in Orangenlicht und mit einem Weisswein vielleicht und Nelly und Romy den ganzen Tag um mich herum kriechend, Blätter essend und rennend, Insekten suchend. Ich werde Bilder zeichnen, weil ich für einmal nicht schreiben will. Aber du hast schon recht, wir trocknen schnell aus ohne dem Schreiben. Unter dem Nussbaum noch etwas neues formen mit alten Worten, neue Bilder schaffen für das, was immer wieder auftaucht im Leben, scheinbar schon zu Ende beschrieben.
Ein schreibender Heinz neben mir. Es ist etwas vom schönsten, dass ich ihn habe, der die Sprache auch so braucht, wie ich.
Dass auch ich dir mit meinen Worten etwas geben konnte, bei dem Reichtum, das von dir zu mir herüber kam. Wie du Worte wie Teppiche ausrollst, auf denen ich stehen kann für Momente und in Gedanken wieder zu ihnen zurückkehren, Teppiche, auf denen ich vorher noch nie gestanden bin. Es erfüllt mich eine Sicherheit und gibt mir ein Gefühl, ein feines, mit mir und meinem Kopf am richtigen Ort zu sein. Für einen Moment. Wieder danke ich dir. Und ich befinde mich in einer Vorfreude darauf, was für Teppiche ich vielleicht noch ausrolle. In vollkommen anderem Muster, aber Teppiche, auf denen jemand stehen kann, vielleicht, für Momente und sein, und in all dem Unsinn und nicht wissen, die Füsse logisch darauf ablegen. Ein bisschen wie das Fahrrad, von dem du geschrieben hast, das Fahrrad anstossen und ein Schutz kann dann die Sprache im Fahrtwind sein. Mein Fahrrad fährt in diesen Wochen unseres Briefwechsels, als ob ich noch ein bisschen mehr Sprache habe für das Unsagbare, es umkreisen kann auf meinen Rädern.
Und gerade jetzt habe ich einen Glanz an Humor, weil ich von meinem Atelier aus auf den See blicke und dort schwimmen 20 Plastikbretter mit Menschen drauf und diese Menschen versuchen Segel aus dem Wasser an sich zu ziehen, Segel, die an den Brettern festgemacht sind und es gibt keinen Wind. Und abwechslungsweise und wie von einer Musik dirigiert fallen die Segel und oder die Menschen zurück in den See, dann steigen sie wieder auf und beginnen wieder die Segel hoch zu ziehen. Die orangenen Westen leuchten. Es ist fantastisch und ich staune über diesen Menschen, der wir sind, der sich Dinge ausdenkt, um seine Zeit, die er auf dieser Welt verbringt zu füllen, wo er doch weiss, es gibt keinen tieferen Sinn in seiner Existenz, vielleicht keinen tieferen, als ein Segel aus dem Wasser zu ziehen. 
Liebe Dragica, ich kann noch nicht genau fassen, wie alles zusammenhängt, unser Schreiben und die Veränderung, das Schreiben aus unserer Generation heraus. Ich werde alle Briefe noch einmal als Ganzes lesen, es liegt etwas darin. Aber über was ich noch einmal nachdachte ist das Gefühl, du schreibst sehr nahe an deinem Leben, dir als Material, deine Geschichte und deine Geister, deine Seelen. Das mache ich schlussendlich auch, weil man hat ja nur sein eigenes Material, aber ich habe die Sprache, die ich in Biel herausgeschält (ein schönes Wort deiner Bekannten) habe, als etwas benutzt, als ein Werkzeug mich in möglichst Fremdes hinein zu fühlen. Als Werkzeug der Empathie sozusagen. Darüber habe ich nachgedacht, dass ich nun auf dem langsamen Weg bin, mir selbst im Schreiben näher zu kommen. Und der Weg, der sich richtig anfühlt. Als könnte ich mich nun an mich selbst wagen, weil meine Sprache mir Sicherheit gibt, dass ich nicht zu nah komme, nicht Bedeutung mit Kitsch verwechsle, nicht etwas, was nach Innen gehört, nach Aussen drücke und dann liegt es in fremden Händen, wo es nicht hingehört. Und auch das hängt wieder mit dem Fahrrad zusammen, dass ich plötzlich diese Sicherheit habe, dass das Ich als Material etwas sein kann. Denn ich dachte immer, möglichst nicht von diesem Ich schreiben, einem Schweizer Kind, aufgewachsen in vollkommenem Frieden, aufgewachsen in Zürichs Randgebiet mit grossem Garten, mit Insekten retten aus dem Swimmingpool, mit sich von Bienen stechen lassen, damit man nicht zum Klavierunterricht muss, mit Zuckerfröschen essen bis zur Übelkeit und vergrabenen Schätzen, mit Eltern, die Freunde in den grossen Garten einluden und Feste feierten und das Kind, das ich war, das unter dem Tisch sass und den teilweise betrunkenen Freunden zuhörte, ihre Geschichten von Fahrten mit der Vespa nach Indien oder vom Wandern auf der Rigi. Davon sollten meine Gesichten nicht handeln, das muss die Welt nicht hören, dafür ist kein Platz, für diese heile Welt des Kindes, dachte ich mir. Darum das weiter weg. Darum das Schreiben über die Figuren, die einen Platz suchen in der Welt, die keinen finden, an den Rand gedrängt oder zu still. Dann bin ich aber unweigerlich doch bei mir gelandet, zum Glück. Ich bin sie alle auch meine Figuren. Und so heil ist auch meine Welt nicht und die Wunden liegen überwachsen, vielleicht nicht einmal in meiner Generation entstanden, dennoch trage ich sie mit und die Welt hat genug des aufgeschürften und das Schreiben kann Trost sein, das ist ihr Antrieb, Trost innerhalb dessen, das unsagbare zu sagen. Was für eine wichtige Rückmeldung auf dein Buch von dieser, deiner Bekannten. Das kaum Sagbare herausgeschält.
Ich schreibe und denke die ganze Zeit, Dragica wird mir nicht mehr antworten, wo bleiben dann meine Sätze hängen, das ist kein Abschluss, ich warte auf Antwort, denke mir deine Stimme, die ich nicht kenne. 
Was ich tun kann ist, ich gehe später in die Volkshaus-Buchhandlung, da kaufe ich alle Bücher, die ich von dir finde. Die lese ich dann, höre dir zu und vielleicht finde ich Briefe an mich darin, die auch Antwort auf diesen Brief sein können. Vielleicht finde ich neue Teppiche, ganz sicher bin ich mir. Ich freue mich sehr darauf. Viele Bücher will ich mir kaufen. Auch noch andere. Gerade lese ich das Buch Menschenkind. Von Toni Morrison. Jeden Abend, wenn die Kinder schlafen, setze ich mich auf den weissen Balkon, trinke Rotwein und rauche und lese von einer Welt, die ich nicht kenne, die meiner so fern ist, die weh tut, die weich ist. Weich ist ihre Sprache und so unglaublich elastisch und wie ein Laubhaufen, hineinspringen und manchmal wie unter Wasser keine Luft. Steine berühren. Und Eisen im Mund. Es tut weh das Lesen, danach gehe ich still zu Bett und in dieser Nacht träumte ich, dass ich in einem grossen Haus allein mit Geistern lebe und die Treppen führten nirgends hin. Ich weiss nicht mehr, was ich sagen wollte. Bin nahe an Tränen jetzt, weil die Geschichten, die literarische Sprache, die verschiedene Welten, Traurigkeiten oder Schönheiten nicht vergleichend nebeneinander stellt. Und das, was ich nicht kenne in mir aufhellt.
Liebe Dragica, du wirst es nicht glauben, es ist wie erfunden vor meine Augen gekommen. Ein riesiges aufgeblasenes Einhorn schwimmt nun in der kleinen Bucht vor meinem Atelierfenster. 
Der Mensch, denke ich, der Mensch und aus einem beinahe Weinen wird ein beinahe Lachen. Ich danke dir für diese Zeit, das Hin-und-her-Gehen der Worte, deine, die mich eng begleitet haben.

Bis bald unter den Bäumen

deine Julia

12. Juli 2020

Svijet je položen vodoravno
na plamteću jasnoću moje kćeri:
ona nosi na usnama svoju prvu ljubav
još dok izgovara prve rečenice,
ona oprašta posječene šume i 
raskrvavljena srca dok još ne vidi horizont
izvan ove topline, ona vjeruje da 
taj svijet koji titra usred i izvan nje
u ravnini njenog prkosnog nosa
može biti svijet gdje će
svaka lutka biti pokrivena i voljena
I ništa nije jasnije od moje kćeri
osim možda ljubavi koja se prolijeva
iz moje pospanosti
dok prepričava
namjeru da ja postanem malena
pa mi pokloni svoje tenisice

Die Welt ist eingebettet waagrecht 
auf brennende Klarheit meine Tochter:
sie trägt auf ihren Lippen ihre erste Liebe
während sie erste Sätze ausspricht
sie verzeiht uns ausgeholzte Wälder
und blutige Herzen solange sie nicht den Horizont sieht
ausser diese Wärme, sie glaubt dass die Welt
die in ihr wimmert und ausserhalb von ihr 
der Welt ist 
auf der jede Puppe geliebt wird
und zugedeckt
und nicht ist klarer meine Tochter ausser vielleicht die Liebe 
welche sich aus meiner Verschlafenheit ergibt
während sie erzählt
ihr Vorhaben 
mich zu verkleinern damit sie mir ihre Turnschuhe 
schenken kann


Liebe Julia,

das ist ein Auszug aus einem Gedicht von Monika Erceg, 1990 geboren, Flüchtlingskindheit in der eigenen Heimat, Physikerin, Dichterin heute. Ich bringe dieses Gedicht, weil ich dir ein Zitat aus Musils Mann ohne Eigenschaftenversprochen habe und ich ihr Gedicht als Fortsetzung seiner Gedanken sehe, als eine Weiterführung, die das Thema unserer Briefe immer wieder am Rande streift. 
Robert Musil äusserte sich eben auch im Buch gegen das Zitieren: „Es ist unmöglich, den Gedanken eines Buches aus der Seite zu lösen, die ihn umgibt.“ 
Ich tue es trotzdem.

Sie stellen sich also vor, „daß sie mit Arnheim in eine Art Heiligkeit davonfliegen möchten, […] man muß sich wieder der Unwirklichkeit bemächtigen; die Wirklichkeit hat keinen Sinn mehr! […] Ich war, was Sie nicht glauben werden, ein gutes Kind; so weich wie Luft in einer warmen Mondnacht. Ich könnte grenzenlos verliebt in einen Hund oder in ein Messer sein –“ 
„Glauben Sie denn wirklich, daß es ein grenzenloses  Empfinden gibt?“, fragte Ulrich.
„Oh, es gibt grenzenloses Gefühl!“ erwiderte Diotma […].
„Sonderbarerweise sprechen wir oft davon, aber es ist gerade das, was wir lebenslang vermeiden, als ob wir darin ertrinken könnten.“

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften I. Reinbek: Rowohlt, 25. Aufl. 2010, S. 574-575.

Ich habe lange gezögert mit diesem Brief, zum einem weil es mein letzter an dich ist in dieser Form, zum zweiten weil ich unterwegs bin, in der Schweiz, Lesung in Bern, Besuch eines Freundes im Kanton Jura und jetzt mit der Familie zum Abendessen in Zürich, wir feiern einen verpassten Geburtstag und die Auszeichnungen meines Buches. Aber während ich da zögere, sprechen die Blätter der Bäume vor unserem Balkon, darunter eine Blutbuche auch bei uns, und sie wird dunkler, die Blätter rauschen, am Morgen früh kommt die Sonne schräg und färbt die Tanne goldig wie im Herbst, während „unser“ Dieb-Vogel, ein exotischer, sich wie gewohnt meldet. So nah bist du hier, fast einen Steinwurf entfernt.
Also ich schreibe den abgefederten Brief; diese Bezeichnung gibt es nicht, aber ich führe sie ein, abgefedert, damit man nicht wie ein Ei zu Boden fällt, ohne Schutz. Aber ein abgefederter Brief, das wird auch heissen, ihn aus der Hand zu lassen, aufhören und nichts vergessen, den Abschied vor Augen. Ich denke seit Tagen, was noch nicht gesagt ist, was mir deine Briefe beigebracht haben, was anders ist jetzt? Ich las deine Kolumne über die Trauer, welche man versucht ist aus anderen zu vertreiben, so als wäre Trauer nicht berechtigt, in unseren Herzen zu sein, die Trauer braucht Zeugen, hast du geschrieben, sie braucht ein Votum da zu sein im Angesicht eines anderen Menschen, und sobald sie sein darf, dampft sie wahrscheinlich aus, das hast du nicht geschrieben, aber das versteht sich. Wie Recht du hast, aber ich denke, es gibt etwas mehr als Trauer, einen Schmerz des Entsetzens, welches einen Menschen so unvorbereitet trifft und so tief, dass er verstummt vor Scham, dass dies möglich ist zwischen Menschen. Ein Trauma entsteht aus diesem Nicht-berühren-Können dieser Wunde und aus Schweigen, davon handeln meine Bücher Glück und Liebe um Liebe. Und ich merke, vielleicht hast du mir erklärt was die Trauer bringt, Trauer bringt Frieden mit dem alten Schmerz, und bei mir war das Buch dieser Jemand, welcher mit mir getrauert hat, meine eigene Hand, welche mit mir in Worten mich mittröstete, da war. Darum – so Leere nach dem letzten Buch.
Nach meiner Lesung in Bern schreibt mir eine gute Bekannte, ich hätte Passagen gelesen, die mir so nah gingen, nicht weil ich einen ganz persönlichen Bezug dazu habe, sondern weil Du es so beschreibst, dass man direkt in der empfindlichen Haut der Protagonistin ist, mitdenkt und mitfühlt. Mir scheint, Du hast in 17 Jahren das kaum Sagbare herausgeschält mit einer grossen Ausdruckskraft, die im Leser tief mittönt.
Das ist eine Definition der Literatur und der Unterschied zum Kitsch, beim Kitsch fühlt man nur mit. 
Ich glaube verstanden zu haben, warum du so schreibst wie du schreibst, weich, klar, liebevoll. Es ist wie ein Dagegenhalten im besten und wärmsten auf der Seite des Mensch-Seins mit dem Blick der Liebe … und das ist etwas Neues und Erstaunliches, dass es möglich wird. Die Bäume – ich dachte, da drin könnte unsere Forscherin forschen, es gibt so viel von den Pflanzen zu lernen, und das war mir in diesem Botanischen Garten ganz klar, und das auch dank unseren Briefen, endlich bin ich in ein Alter gekommen, wo mich Junge Wichtiges im Leben lehren, ich könnte sozusagen nur schauen, lesen, lernen, hören, und es erscheint mir so logisch und klar, es steht mir, uns noch eine so unglaubliche Zukunft bevor, denn diese Jungen sind anders als wir aufgewachsen, das, was sie uns lehren ist wertvoll und anders zwar als wir dachten, aber welche Eltern könnten so weit denken wie die Zukunft für sich denkt. Ich habe einen Film über den Verleger Klaus Wagenbach gesehen, er ist neunzig geworden, sein Leben ist eine Geschichte des Nachkriegsdeutschland. Seine Haltung aber muss man sich selber erarbeiten, und die Konsequenzen tragen. Links sein heisst für ihn, das Herz welches wirklich links ist dort auch zu lassen, weil das rechte Herz den Schwächeren verachtet und das ist dann kein Herz. Das Schönste im ganzen Film ist aber, wie er mit seiner kleinen siebenjährigen Tochter den Aufstieg auf die Berliner Hütte im Zillertal schafft und das Leben so voll lebt in diesen Jahren, so sehr hätte ich mir dies für meine Eltern gewünscht.
In meiner Generation, glaube ich, war und  ist das Schreiben dagegen, das Aufzeigen der dunklen Seite nicht nur aber doch mehr als jetzt präsent, weil auch die Welt in den 1960er Jahren heller sein wollte als ihre Wirklichkeit, um den Krieg sagen wir mal wieder abzufedern. Das Gedicht von Monika Herceg, Jahrgang 1990, zeigt das, dieser Ausschnitt der Wahrheit eines Kindes, welches so viel gilt, und ausserhalb vom Naturgesetz ist eine eigene Wirklichkeit.

Die Ronny aus deinem Profilbild schaut zu mir genau so in die Welt, wissend und verständnisvoll. Im Botanischen Garten vor der Lesung, ich sah dort die L. mit ihrem Hund, und sah sie dort forschen in fünfzehn Jahren.
Pawlowna am Place de Escarpe in Paris, Paul Celan hat sie dort gesehen 1949, und später kommt sie in ein Gedicht für die Bachmann oder umgekehrt, so sah ich den Namen. Morgen fahren wir nach Leuk, nicht nur weil ich einmal ein literarisches Reisebuch in Leukerbad gekauft habe, in welchem Schriftsteller die Wanderungen dort beschreiben, wir werden zum Rilke-Grab in Raron gehen, das Wallis kennen lernen. Meine Kinder planen ihre Schweiz-Ferien und geben uns Tipps was wir noch nicht gesehen haben, letzte Woche waren sie in der Bieler Gegend auch. Apropos Biel, ich war am Samstag dort, aus reiner Nostalgie stieg ich aus in Biel, es war wie dass du mit mir gehst, was in Biel auffällt, sind sogenannte Randständige, welche immer an denselben Orten noch nach Jahren auf einen warten, ich lebte ja ein Jahr lang in Biel und hatte vor, einer ganzen Schule schreiben zu lehren, es war ein unglaublich strenges und gutes Jahr, ich durfte alles ausdenken, wie ich unterrichtet habe, und ich bin überzeugt, wenn Kinder erzählen dürften wie sie wollen, und ich bin nur da um dieses Velo in den Händen anzustossen, dann werden sie ihr ganzes Leben keine Angst vor Aufsätzen und vor der Sprache und dem Inhalt empfinden. Doppelte Wirklichkeit durch Schreiben zu bekommen … das sollte doch die Schule können.
Ich eile, weil ich meine Enkelin zum Schwimmen abholen muss, sie wird bald also sie ist schon zehn Jahre alt im August, sie kam aus der Ukraine mit vier Jahren und spricht mit ihrer Mutter Russisch und mit mir Deutsch, aber sie macht Kunstgymnastik und springt überall wie ein Federball leicht. Ich sehe sie zu wenig und bin jedesmal irritiert wie gross ist sie und was sie alles kann. Unsere Pläne, ein Buch zusammen zu machen über eine Lügnerin welche spielende Eltern hat und sie erziehen muss, wartet und ich hoffe wir schaffen es dieses Jahr.
Ihr geht auch bald in die Ferien, und das ist gut so, man braucht ausserhalb auch das Leben, obwohl nach allzu langen Zeiten ohne Buchstaben trocknet man aus (ich, du, … etc.), fast alle welche Kunst treiben und betreiben …
Liebe Julia, ich melde mich, wenn wir aus Leuk zurück sind, und wir gehen unter den Bäumen was trinken und reden, ich freue mich so drauf,

Deine Dragica

P.S. Anbei Fotos von meinem Arbeitszimmer in Innsbruck und von meiner Familie. 

10. Juli 2020

Liebe Dragica

Während du dich von Ort zu Ort bewegst und deine offenen Fenster mich bewegen, während ich immer wieder am gleichen Ort mich befinde, um dir zu schreiben. Immer das Fenster zum See und immer ein Wetter. Heute die Klarheit von Sommer und weit hinter dem See die Alpen, die eine mögliche Weite begrenzen. Wie auch ich immer die Alpen in meinem Kopf vorfinde, wenn ich etwas wirklich erfassen will.
Vieles nehme ich in mich auf von deinen Worten. Die Worte zu deinen Eltern, die nicht mehr die Menschen sind, die sie einmal waren. Eine Traurigkeit, die sich in meine innere Wiese, die Hajenka, legt und ich versuche meine Alpen im Kopf zu überwinden, mir vorzustellen, wie das ist. Und denke an meine, die, seit ich wiederum Kinder habe, auch andere für mich geworden sind, aber auf eine, für unsere Beziehung von Kind zu Eltern, wertvolle Art und Weise. Jetzt gibt es zwischen uns noch Lebewesen, die, wie ich es fühle, die Enge, die manchmal durch langes Zusammensein und ihr Wissen über mich, das ich selbst nicht habe, entstehen kann, aufgelöst wurde. Wir können mit diesen neuen Rollen als Mütter und Grossväter und Grossmütter andere sein. Zum Beispiel habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben bei meinen Eltern entschuldigt, dass ich zu streng mit ihnen war. Sie meinten dann, das sei gar nicht schlimm gewesen, dass sie mit mir ja viel länger und viel strenger noch gewesen seien. Das stimmt wohl. Und auch sie sind Grosseltern, die nicht einmal zu langsam stricken, vielmehr stricken sie gar nicht. Aber ich mag ihr Grosseltern-Sein sehr. Weil sie so beschäftigt sind in ihrem Leben und dann Platz freiräumen für die Enkelkinder, wo sie nur können, weil sie wirklich gerne mit ihnen zusammen sind. 
Wie wird es sein, habe ich mich nach deinen Worten gefragt und auch schon vorher, das Alt-Werden, das schleichend kommt, aber immer wieder in Augenblicken sichtbar wird. Ich kann mich noch erinnern an den ersten Moment, als ich zum ersten Mal gedacht habe, jetzt, jetzt werden sie alt. Wir waren im Wald und meine Eltern, die Holz für das Feuer suchten und sie hängten sich gemeinsam an einen morschen Ast einer Tanne, weiter, im Inneren des Waldes. Ich stand neben ihnen und sagte, sie sollten doch nicht so hängen daran, der falle auf sie herab, wenn sie so an ihm hängen würden. Sie lachten und riefen, der muss aber ab, der Ast und dann brach er und fiel meiner Mutter auf den Kopf. Sie weinte und mein Vater entschuldigte sich und als es besser geworden war, sagte ich, habe ich es doch gesagt und sie sassen auf einem alten Baumstamm mit runzeliger Rinde zwischen den Bäumen und sagten gar nichts mehr. 

Das war der Moment. Aber natürlich ist das etwas ganz anderes und ich habe Angst gehabt. Wie ich damit umgehen werde, wie es ist, ein Kind zu sein und die Eltern nicht mehr die Eltern wie man als Kind das Kind der Eltern immer ein bisschen bleiben konnte, bis zu diesem Moment. Kraft, will ich dir gerne schicken.
Neben der Geschichte der Körper, von der du geschrieben hast, der Schönheit, die ein Liebenswert sein sollte, gab es noch eine andere. Und es stimmt, es geht nicht um Schönheit, wie der Begriff ein Begriff ist in der Welt und dennoch hänge ich so sehr an ihm, daran, diesem Begriff ein neues Kleid zu geben, ein neues Wesen auch. Aber du hast Recht, es ist das Wort Liebenswert, das besser passt. Nur hat wiederum dieser Begriff ja auch ein Kleid und ein Wesen, das so sehr davon abhängig ist, was andere von einem denken. Liebenswert bedeutet, du bist es Wert, geliebt zu werden. Was aber generiert diesen Wert. Da wird es mir schon unwohl, bei diesem Wort, „Wert“. Und in der Schönheit ist für mich die Möglichkeit vom sich selbst lieben und auch von der Umwelt geliebt zu werden, in dem, dass die Farbe des Asphalts zu einem passt, der Klang der Stadt, die Menschen, die um einem gehen, die Katze in den Büschen und der überquellende Abfalleimer Samstagnacht. Schönheit, das Wort, das es zu befreien gilt. So dachte ich es. 
Aber nun bin ich abgeschweift. Es gab noch eine andere Geschichte, die ich gelesen habe im Radio und darin geht es um Olga, die ihrer Mutter gegenüber sitzt und plötzlich so ergriffen ist von dem Gedanken, den sie als Kind manchmal hatte, was wäre, wenn es die Mutter nicht mehr gäbe und die Traurigkeit befällt sie und sie fragt schlussendlich die Mutter, ob sie ihren Kopf auf deren Bauch legen darf, aus dem sie in diese Welt gekommen ist. Und am Ende sagt die Mutter, Olga, es ist so schön, dass es dich gibt. Liegt da vielleicht ein Punkt, eine Möglichkeit von einem Sinn vom Existieren, dass wenn die Person, die einen in die Welt getan hat, auch die ist, die einem diesen Sinn geben kann, in dem sie einen Wert darin sieht, dass es einen gibt. Ich weiss es nicht, ich weiss nur, dass ich beim Schreiben dieses letzten Satzes losgeheult habe wie ein Wolf. Aber das ist wohl meine Geschichte, der ich noch nicht bis an seinen Anfang gefolgt bin und es wahrscheinlich nicht tun werde. Nur pflege und salbe und tröste ich mich selbst, in dem ich davon schreibe. Und, was ich eigentlich schreiben wollte, auf diese Geschichte habe ich die meisten Reaktionen erhalten von der Welt rundherum, und das erstaunt mich nicht. Vielmehr erstaunt es mich manchmal, wie scheinbar selbstverständlich wir die Kinder unserer Eltern und unsere Kinder unsere Kinder sind. Ich muss ehrlich gestehen, ich sage zu meiner Tochter vielleicht zu oft, dass ich es unglaublich finde, dass sie in meinem Bauch entstanden ist und nun vor mir sitzt und mit mir über das Paarungsverhalten von Seelöwen spricht. Das ist doch verrückt, sage ich. Aber das ist ja bei allen so, sagt sie. Aber trotzdem, sage ich und versuche sie zu küssen und sie rennt weg. Da war ich drinnen, sagt sie vielleicht ab und zu, zu mir und zeigt auf meinen Bauch und ich beginne wieder zu heulen wie der Wolf.

Während ich dir schreibe, es ist schon so normal geworden und ich kann mir ehrlich gesagt gar nicht recht vorstellen, wie es ohne deine Briefe sein wird. Obwohl ich weiss, die Zeit wird diese Stellen auch füllen mit irgendwas, von dem ich aber befürchte, dass es nicht so tief sein wird. Während ich dir schreibe, habe ich bereits ein Gefühl für das, was von dir zurückkommen wird. Ich habe eine Stimme zu deinen Worten, die vielleicht gar nicht deine ist. Weil ich weiss nicht mehr genau wie du klingst. 

Es ist eine erstaunliche Nähe, die da passiert. Ich freue mich sehr über sie.
Und das Bild der Hajenka hast du mir geschenkt. Meine Hajenka hat jetzt einige Blumen, Rosmarin, Lorbeer, Meeresfenchel, Basilikum, selbstgepflanzte Wiesenblumen vom dalmatinischen Balkon mehr. 

Ich werde sie beim nächsten Brief zu zeichnen versuchen.

Es gibt ein Glitzer heute auf dem See. Und ein Spatz, ich weiss nicht, ob es immer der gleiche ist, der gleiche, der damals hinter der Milchglas Scheibe erschien, ein Spatz, der immer wieder auf der Fensterbank sitzt und zu mir reinschaut. Dann, wenn er mich sieht, fliegt er fort.

In mir wohnt eine grosse Dankbarkeit für das, was meine Mutter und ihre Generation, also auch die deine, für uns, also meine Generation geschaffen hat. In mir wohnte lange ein Gefühl, dass ich es nicht nötig hätte mich so aufzubäumen und hart in Forderungen zu sein, gegenüber der Gleichberechtigung. Lange hatte ich das Gefühl, ich hätte doch alles, es stimme für mich und das ganze Thema sei erledigt. Dann bin ich älter geworden und habe realisiert, dass ich lange Zeit meiner Jugend damit verbracht habe, wie ein Junge zu sein. Mein Aufbegehren gegen die Ungerechtigkeit, die einem als Mädchen in dieser Gesellschaft widerfährt, bestand darin, das Mädchensein abzulehnen, alles, was damit in Verbindung gebracht wird. Es war einfacher sich als Mädchen, das wie ein Junge ist, durch die Jugend zu bewegen. So ein Irrtum. Und irgendwann habe ich mich bei meiner Mutter für ihre Arbeit bedankt. Für ihren Kampf und ihr Bestehen auf Formen der Weiblichkeit in Gesprächen, die mir manchmal unangenehm waren. Aber natürlich musste sie unangenehm sein und ich ging den einfachen Weg, versuchte ein Junge zu sein. 

Etwas kurz gefasst, aber ich merke, dass meine Gedanken wieder etwas weich werden und die Sonne, die mir an den Kopf fällt. Ein Hund, dessen Bellen so hoch und gläsern ist, dass es mir im Kopf weh tut. 

Liebe Dragica, wieder ein Gefühl, deinem Brief gegenüber nicht gerecht geworden zu sein. Diesmal aber, weil deinem Gewicht im Geschriebenen über deine Eltern, eine Leichtigkeit aus meinem Leben folgte. Auch dieses Gefühl wiederum hat mit dem Oszillieren dieser Briefe zu tun, innerhalb der Intimität und Öffentlichkeit. Ich freue mich auf deinen Brief, wünsche dir ein gutes Sein und nochmals, danke ich dir sehr für deine Gedanken, 

Deine Julia

3. Juli 2020, Innsbruck

Vesna Parun (1922 – 2010)

Za sve su kriva djetinjstva naša

Izrasli smo sami kao biljke.
I sada smo postali istraživači
Zapuštenih predjela mašte
Nenavikli na poslušnost zlu.

Iznikli smo pokraj drumova
I s nama rastao je strah naš
Od divljih kopita koja će nas pregaziti
I od kamena međašnih koji će razdvojiti
Našu mladost.

Nitko od nas nema dvije cijele ruke.
Dva netaknuta oka. I srce
U kojem se nije zaustavio jauk.

Starimo. A bajke idu uz nas
Kao stado za ognjem u daljini.
I pjesme su nam takve kao i mi.
Oteščale i tužne.

Für alles sind unsere Kindheiten schuld

wir wuchsen allein wie die Pflanzen
und jetzt sind wir Forscher in zerrütteten Teilen unserer Fantasie
geworden
Wir sind nicht gewöhnt den Bösen zu dienen.
Niemand von uns hat zwei ganze Hände 
Zwei unberührte Augen. Und kein Herz
in welchem der Schrei nicht Stopp gemacht hat.
Und gleichzeitig mit uns wuchs auch unsere Angst
vor Pferdefüssen und Steinen, Wänden, welche unsere Jugend zersplittern wird.
Wir werden alt.
Die Märchen begleiten uns
wie die Tierhorden hinter dem Feuer in der Ferne
und unsere Gedichte sind wie wir 
schwer und traurig.

Liebe Julia, 
Vesna Parun ist die kroatische Friederike Mayröcker, 1922 geboren auf der Insel Zlarin, die erste Dichterin in Kroatien, die von der Dichtung lebte (schlecht); und hier sende ich dir nur zwei, drei Strophen, mehr denke ich kann ich dir senden ohne Brief, oder bei den Lesungen aus den Briefen dazu kleben.

Die Stille zwischen den Briefen löst ein leises Vibrieren der Angst in mir aus, habe ich nicht allzu viel, allzu stark, allzu allgemein, allzu altklug mich eingemischt, gesagt, gesehen, gefragt. Und dann als dein Brief kam wie ein Festessen, eine Tafel wo ich mich hinsetzen kann, wie Muscheln essen und Sauce kosten. Ich lese und tu dort streicheln, dort staunen, dort pflücken, dort riechen, dort denken, nein, nein, nicht jetzt Julia verlieren. Habe dir von dieser Verlustpanik geschrieben, während wir uns gerade auf Distanz und doch in Gleichschrift zueinander bewegen. Dieses Schreiben fördert bei mir Spiegelungen, meine Seele braucht diesen Dialog um sich auf einer „Hajenka“ auszuruhen. Hajenka hat mir einmal ein tschechischer Psychologe aus Zürich gesagt, heisst Innere Wiese auf Tschechisch. Ich sah das Foto von deinen Hautzeichnungen für mich wie zum Lüften gekennzeichnete Wiesen (Hajenkas) des inneren Erlebens. Ich erinnere mich an den Anfang von meinem Roman Liebe um Liebe, ich versuchte mir die Textabschnitte mit zwei Worten zu steuern. Atemlos das Glück, kein Atem das Unglück. Diese beiden Rhythmen sollten das Buch tragen. Sphärenklang nennt es Hermann Broch. Er hat doch Gedanken pro Minute berechnet, um den Vergil-Mythos zu schreiben, ein Poem des Übergangs zum Tode, über einen Dichter, der sein Werk vernichten will weil der Staat ihn missbraucht. Er merkt, dass die (heute würde man sagen) Rezeption seiner Worte überhaupt keine Veränderung der Handlungen der Bürger bewirkt. Ich erinnere mich jetzt an deinen Essay über Max Frisch, wo du genau dies sagst, bitte ehrt mich nicht, während die Welt untergeht. 
Zurück zu deiner Suche für den Roman der Sprache der Liebe.
Du schreibst über die Unschuld der nichtbestimmbaren Körper in der Umarmung : Mir kommt Nietzsche in den Sinn, der Satz – glaube ich – dass Stil eine Frage der Moral ist.
Übrigens, warum ist Sexualität an diese Moral und Unmoral gebunden oder von ihnen entbunden? Liebe beginnt mit der geistigen Sexualität, aber sobald man Sex sagt, wird der Geist, die Seele wie stillgelegt (scheint es). 

Die Frau über welche mein Roman erzählen wird, war Model, durch ihr Model-Sein hat sie die Liebe erworben, durch Sexualität ist Inspiration geworden oder umgekehrt. Ich vertage es noch immer, darüber tiefer nachzudenken, es ist ja Sommer, noch der Anfang des Schreibens.
Ich habe mit dem Gedanken gespielt, dieses Hineinfallen in die Augen des Mannes umkehren zu wollen, er soll Modell stehen und sie ihm aus sich so malen, aber das Problem ist, dass es die Frau nicht gibt in dem Sinne, und sie, wenn es sie gibt, doch gewertet wird. Ich hörte deine Radiokolumne gestern, ja, ihr Köper ist schön in seiner Einzigartigkeit aber schön und hässlich sind historische Begriffe, und wenn wir den Körper schön nennen, sollte es liebenswert heissen, so so, und brauchen wir Schönheit wie Brot, welche und warum? Als sie sich trennen, malt er sich als Tod des Mädchens. Wieder ist er die bestimmende Figur des Todes der Liebe. Und sie hängt heute an den Wänden der Museen, was hängt an Wänden? Sein Blick auf sie? Ich weiss (noch) nicht, wie ich mich aus dem neuen und alten Blick der Erotisierung und Liebe hinaushinein schreiben werde, kennst du Paul Simon, das ist ein Maler welcher schreibend malt. Ich bin ihm verfallen, sagt man.
Jetzt ist ein anderer Morgen, ich schau durchs Fenster in Innsbruck, ich habe einen Preis bekommen vor einem Monat, aber der diesbezügliche Brief kam nicht an bis zu mir, also ist meine heutige Freude auch einen Monat zu spät. Wäre der Brief rechtzeitig gekommen, ich hätte an diesem Roman mit mehr Aufschwung gearbeitet, hätte ich doch gewusst, das Jemand an mich glaubt, während ich mir einrede, dass es mit diesem Roman noch nicht Zeit sei hineinzufallen ganz.

Ich habe gestern spät wieder deinen Brief gelesen, ich habe verstanden wie es anders gehen kann ohne meine ständige Bedrohung der Kunst, ich sah mich als Leserin, die, um auf der Welt sein zu können, sich aufseilen muss mit Worten, wenn es sein muss, aber mein Vertrauen in mein „Talent“ musste von aussen kommen, es war ein Geheimnis, ist ein Geheimnis, dass ich dieses unbedingte Vertrauen innen und aussen(Grössenwahn) brauchte um am Leben zu bleiben – 
Ich fragte in Biel deine Kollegen, was für ein Konzept für das Scheiben sie haben, und einige schauten mich entgeistert an. Eine sagte, ich setze mich und schreibe wie du in diesem Dachboden, that’s it … 

Du siehst, ich eile irgendwohin, statt mich am Boden der Tatsachen festzuhalten, an der sogenannten trockenen Realität. Unterlage meine Traurigkeit. Meine Eltern sind beide in einem Zustand der Fortlaufenden Veränderung, das ist ein schöneres Wort für Überfall der Blödsinnigkeit, sie werden böse, handgreiflich, ihre Worte sind kein Honig sondern Gift, sie tun sich selber, anderen weh, sie fahren auf einer Schiene, aus welcher auszusteigen unmöglich ist, aber ich möchte nicht sie behandeln wie Spielzeuge, ausgefallen aus sich. Ich habe so viel gelesen über Verlust, über Demenz, aber ich kann sagen, vergiss es, es ist eine schmerzende Realität, eine unaufhörliche Schaukel, es ist Selbstgeburt und Wutstation, es ist Unmut und Resignation, es ist ein Kampf mit den Worten und mit der Erinnerung, ein Abschied von Körperlicher Präsenz eines Menschen in Gestalt deiner Eltern, aber du kennst sie kaum mehr oder sie nehmen dich nicht mehr wahr. 
Altenpflege – in Kroatien ist sie erst in den Anfängen, die Familien sind sich selber überlassen, immer sind es die Frauen, wie meine Schwägerinnen, welche die Eltern pflegen müssen.
Ich habe sie jetzt fast ein Jahr nicht gesehen, und die Veränderungen sind so massiv, dass ich es nicht so annehmen will oder kann. Wie nimmt man an, dass diese Person, diese Person, welche noch immer denselben Name trägt, Jemand anderer geworden ist, wie eine Geschlechtsumwandlung muss man sich das vorstellen, und du willst die vorherige Gestalt. Ich schaute heute wieder Fotos um mir in Erinnerung zu rufen wie gut es letztes Jahr war, aber ich empfand auch das letzte Jahr als Weltuntergang.
Wenn ich schon letztes Jahr schreibe, weiss ich, es war für mich das schwierigste meines Lebens bis jetzt. Dieses Jahr sieht schon sehr hell aus. Mein Bruder hatte einen Herzinfarkt und hat dadurch einen Krebs entdeckt welcher dann heraus operiert werden konnte – er lebt, hat überlebt als einer von einer Million sagt er, aber wissen wir, ob er nicht als einziger solchen Fall überlebt hat. Ich habe (auf Deutsch) versucht diese Zeit in Worte zu fassen, irgendetwas zu begreifen, greifen, mit ihm sein und bei mir um Kraft zu denken wenn es ihm hilft auf der Erde zu bleiben. Ich erinnere mich, ich war etwa vier, als Grossmutter uns gesagt hat, dass Menschen sterben, dass ich nicht mehr schlafen konnte, ich fiel aus der Erde hinaus, mein Bruder atmete im selben Bett neben mir und ich vergesse nie diese Angst dass er mir sterben würde, ich hatte schon damals seinen Verlust befürchtet und nicht meinen.
Er ist einundeinhalb Jahre jünger als ich, und wenn er nicht da wäre, dann wäre ich halbiert – nur dieses sagte ich zu mir, Augen zu und weiter. Ruth Schweikert lieferte mir den Titel. 
Wie helfen, wie beten, es kam immer dieser Drang, mich zur einer Macht zu bekennen welche etwas kann, welche etwas weiss, welche schützt, welche nicht zulässt Unzulässiges, den Skandal des Nicht-auf-der-Erde-Seins aber nicht abstrakt sondern handgreiflich nah. Ich muss was anderes schreiben weil mich diese Zeit gerade wieder dann überfährt wenn ich darüber dir schreibe. 
Wie gut du geschrieben hast, welche Ebenen des Schreiben wie die Kletterstangen dir zur Verfügung stehen … darüber habe ich nachgedacht. Warum meine Angst welche ich wahrscheinlich auf dich projiziert habe, das kostbarste was man hat in sich nicht zu „missbrauchen“. Ich hätte dir vielleicht das Mädchen mit den roten Schuhen erwähnen können. Ein Märchen welches mahnt, dass man nur in selbstgemachten Schuhen gut tanzen kann. Du unterscheidest die Funktionen des Schreibens, und das finde ich höchst interessant, ich habe ja gedacht, dass es ungefähr jeder so handhabe wie ich. Aber eben nein, ich fange an zu verstehen dass du zwei Arten des Gebrauchs des Talents unterscheiden kannst, ihre Wirkung, ihre Notwendigkeit, und deine Quelle aus welcher sich beide speisen. Viellicht ist das mein Problem wenn ich über das Literaturmachen diskutiere. Es braucht den Dialog, zuhören, stehen lassen, für welchen man heute kaum mehr Zeit aufbringt, annehmen dass es Zugänge und Zugänge gibt zur Kunst und zum Leben. Man kann sie zwar nicht für sich selber „abschreiben“, aber verstehen und sich wundern. In meinem Traumtagebuch habe ich einmal das Folgende abgeschrieben von Clarissa Pinkola Estés,

Der Seelenhunger treibt viele Frauen an, nach allem zu greifen, was dem verlorenen Schatz ähnelt. Sie möchten das Versäumte nachholen. Dabei ist die Gefahr groß, sich solche Ersatzbefriedigungen zu suchen, die nur ein schnelles Glück verschaffen kann. Häufig beginnt damit ein Doppelleben. Die eigentlichen Bedürfnisse können jedoch nicht gestillt werden. Eine instinktverletzte oder überdomestizierte Frau hat große Schwierigkeiten damit, diese wahrzunehmen. Sie merkt nicht, wann es Zeit ist zu fliehen, wann Vorsicht und Misstrauen geboten sind, kann nicht um Hilfe bitten usw.
Schatten.

Hat meine Generation der Frauen vielleicht doch ein wenig Verrückung geschafft, dass ihre Töchter und ihre Söhne sich nicht so leicht aus den Augen verlieren? Deine Antwort hat mir das bestätigt, und ich freute mich darüber, die Brille einstellen auf Zeitdenkveränderungen bringt Freude mit sich, wenn man (schwer) aber immerhin lernt zuzuhören. Ich habe ein paar Taschen voll mit Pflanzen mitgenommen, Rosmarin, Lorbeer, Meeresfenchel, Basilikum, selbstgepflanzte Wiesenblumen vom dalmatinischen Balkon, so fühle ich mich in dieser Übergangzeit an die Natur dort gebunden. Nebst diesem Trost haben ich und H. gespielt, wir seien Influencer, wir haben sogar ein satirisches Kurzvideo gemacht. Unsere Firma sollte Beratung in allen Lebenslagen verkaufen. Unsere Qualifikationen sind doch so zahlreich, 
es gibt ja tatsächlich kaum etwas, was wir noch nicht verpfutscht haben.
Wir lachten so viel, dass unser Influencer-Dasein schlussendlich stark gefährdet wurde – durch Lachanfälle.
Ich fand in Innsbruck kleine Winterkappen, welche ich in der Corona-Zeit gestrickt habe, sie waren gedacht für unsere drei Enkelinnen, aber ihre Köpfe sind schon herausgewachsen, ich habe mir in den Kopf gesetzt, dieses Grossmutter-Sein mit Stricken und Kuchen-Backen wäre schon voll erledigt, aber die Mädchen wachsen zu schnell und ich bin zu mobil um ständig zu backen und zu stricken. Übrigens, aus bösen Müttern und Vätern können wunderbare Grossmütter und Grossväter werden, nur Schwiegermütter werden keine Stiefschwiegermütter, und gut.
Das Zitat aus dem Mann ohne Eigenschaften habe ich auf dem Tisch, und versprochen, ich sende es dir in unserem letzten Brief. Noch eine Frage hast du mir gestellt, ob man die Tiefe dem Reifer-Werden verdankt … oder habe ich es nur so in Erinnerung, ich kann dir überhaupt nicht darauf antworten weil ich habe das Gefühl dass man nicht hinein wächst wieder zur Kindheit, zur seelischen Reife, welche man „dank“ Umständen verleugnet hat, also die Hektik der falschen roten Schuhe, welche unbedingt sein mussten, ist nicht mehr da, so prekär leben zu müssen …
Meine Kinder sind ja gross, du trauerst, lügst dass ihr Abgang supergut ist. Verfolgst aus der Ferne jeden ihrer Schritte und schweigst um die Sorgen, so wie du gelernt hast, dass Sich-Sorgen-Machen Liebe sei, aber vielleicht Vertrauen-Haben ist es auch.

Ganz liebe Grüsse aus Innsbruck, wir gehen bald nach Buch am Irchel und schwimmen im Max-Frisch-Bad und und 
werden uns wie die Schwimmer im gleichen Becken immer wieder zurufen, hallo, schwimm gut.

Deine Dragica

P.S. Für Mädchen bringe – nehme ich grad was mit (nicht Foto).
Auf dem Foto mit sechzehn hatte ich alle Bücher der Welt auslesen wollen … und heute trage ich Lorbeer und Rosmarin über die Grenzen.

Dragica Rajčić
Dragica Rajčić

2.7.2020

Liebe Dragica

Dein Brief ist mit mir mitgekommen, in meinem Kopf, meinen Fingern, den Augen durch die Tage und immer auch als ein Schein von Wichtigkeit und auch eine Schwere, auch ein Geräusch von Kieselsteine-werfen-auf-Blech. Wie Worte finden an dich nach diesen, die von dir zu mir gekommen sind? Und so nahe und so tief und so traurig und so grünlich und so ein Gehen in schweren, festen Schuhen über den Boden, so viel Leben und nicht mehr Leben und Flammen der Kerzen, danach, die Geschichten, die dir gehören, ein Land an Erinnerung auch. So dass in mir ein Gefühl mitgetragen wurde, durch die Tage, dir mit meinem kurzen, kleinen Leben nicht recht begegnen zu können. Das stimmt nicht, ich weiss, ich kann dir begegnen und die Briefe sind mir wertvoll. Diese Zeit unseres Austausches. Ich danke dir sehr. 

Ich habe den Schmetterling Nelly gezeigt und sie meinte, es könnte ein Schwalbenschwanz sein, aber sie sei sich nicht sicher und auch habe sie wenig Zeit, sie müsse Marienkäfer-Larven finden und die sieben Hunde füttern, es seien schöne Hunde und junge und Handaufzucht und ihr Fell glänze von der Milch, dann rannte sie in den Garten als Forscherin, sang dabei ein Lied, ihr Haar ist fast weiss und eine Weisheit, die gehört ihr auch. Romy hat auch etwas gemacht, als ich ihr das Bild zeigte, aber es ist nicht leicht die Geräusche des Kindes in Worte zu tun. Sie klang wie etwas, das aus tiefem Wasser aufsteigt und aufsteigt und aufsteigt und endlich an die Luft kommt. Sie meinte aber wohl das Leben an sich mit ihrem Geräusch und nicht nur den Schmetterling.

Ich habe heute etwas über das Schreiben geschrieben, vielleicht anstatt zu schreiben. Deine Worte, dass du dich sorgst, weil ich die Aufträge erledige, und der Ort, der das Schreiben sein kann, „lebendiger Ort“ es stimmt, mein Schreiben als Ort des Schutzes und der Lebendigkeit habe ich fast aufgegeben für den Moment. Auch ich sorge mich.

Mein Schreiben, um irgendwie dem Leben begegnen zu können, der Welt, ein Schutz kann das Schreiben sein, weil mein Netz, das mich vor dem Eindringen der Dinge und Nachrichten und Traurigkeiten und Stimmungen und all den Existenzen schützt, hat grosse Maschen. Manchmal sitze ich in der Strassenbahn und versuche die Menschen, die einsteigen, nicht anzusehen, weil alle die Existenzen und Leben mich so sehr angehen, dass ich das Gefühl habe, sie ansprechen und verstehen zu müssen, obschon ich sie nicht kenne. Dann bin ich am Abend ganz aufgeweicht und wie ein Salat zu lange auf der Ablage gelegen. Die Kunst, das Schreiben schützt mich davor, vor dem Eindringen von Welt in mich nicht, eher gibt sie mir eine Möglichkeit, mit all dem Eindringenden umzugehen. Und dieser Ort der Kunst und des Schreibens ist klein geworden, ich aber gleichzeitig auch stumpfer. Ich habe ihn aufgegeben und dafür eine Stimme erhalten, die Tatsache, etwas beitragen zu können, etwas rufen zu können, halt, macht das nicht ihr Menschen, oder nein, es gibt die tausend Farben, die ihr nicht sehen könnt, doch. Erstaunt mich immer noch sehr, aber oft denke ich, was soll ich denn sagen, ich möchte viel lieber graben in mir und in den Dingen, die sich in mir ablagern, weil sie hineinkommen können, weil meine Türen weit offen stehen. Ich möchte mich gerne ein bisschen aus der Welt nehmen, aber die Fenster und Türen sollen offen bleiben. Wind und Welt und Menschen und am Abend einen Heinz, der mit mir auf dem kleinen, nun weissen Balkon sitzt und wir löffeln die Worte aus uns heraus. 
Wie machst du das?
Mein Leben ist genau randvoll. Noch etwas, nur ein Kieselstein, bis das Leben überläuft. 

©Julia Weber

Ich habe heute versucht über Körper zu schreiben, die sich berühren. Ich versuche in meinem Roman eine Körperlichkeit so zu beschreiben, wie ich sie nicht kenne. Sexualität jenseits von Frauen und Männerbildern und jenseits von Pornografie und weg von der Aufklärung und Sozialisierung wie ich sie erlebt habe. Ich habe, weil ich keine Worte fand, angefangen zu zeichnen und plötzlich habe ich gemerkt, dass es mit der Haut zu tun hat. So viel Haut wie möglich aufeinanderlegen, habe ich gedacht und sich ausbreiten wie ein Fell, auf dass jemand sich dann legen kann und sich als Fell um jemanden legen. 
Auch ein Selbstportrait habe ich gemacht. Ich schicke die Bilder mit.

©Julia Weber

Die Lichter und Toten in deinem Leben und auf dem Friedhof und die Toten in deinem Buch. Wie du sie mitnimmst von hier zu da und vom damals ins Heute, hinüberrettest, und wieder musst du dich verabschieden. Wie du schreibst von der inneren Hand, die verformt bis es erträglich wird, wie intensiv dein Schreiben über dein Schreiben ist. Wie es leuchtet, die Flammen von Erinnerung und das Loslassen weh tun kann. Das hat mich tief beeindruckt. Da bin ich noch nicht. Kommt das mit der Zeit? Diese Stärke? Ist es das persönliche, die Geschichten, Menschen, die waren, die nicht nur eine Mischung aus jetzt, früher, ich, Familie, Orte, Sehnsüchte und Ängste sind? Oder, habe ich mich gefragt, als ich das las in deinem Brief, und das ist gefährlich, gehören die Sätze meines Romanes, der entsteht, gar nicht dahin, wo sie sind, gehören sie vielleicht nicht mir? Gerade frage ich mich, bin ich einen falschen Weg gefolgt, zu schnell, weil keine Zeit und irgendwo hinmüssen, so schnell wie möglich von A nach B, und jetzt irgendwo in einer Picknicklandschaft gelandet und weil ich nicht genau schaue, mich nicht genug lange darin aufhalte, die Mülleimer mit lachendem Gesicht und die Plastik-Eiskarte im Wind nicht sehe, merke ich nicht, dass ich in dieser Picknicklandschaft nichts verloren habe. 
Die Intensität, die auch mit der Ausdehnung des Raumes zu tun hat. 
Die Wirklichkeit, in der man sich aufhalten muss. Einrichten.

Du hast auch von den hängenden Augenblicken geschrieben. Und ich bemerkte, als ich darüber nachdachte, was diese für mich sein könnten, dass es, wie stumpf auch immer ich bin, wie tief der Brunnen und gehetzt meine Bewegungen in einem Tag, immer diesen einen Gedanken an das Schreiben für mich gibt, den ich irgendwann in Biel, auf der Dachterrasse des Hauses, dessen Zimmer im Dachboden ich bewohnte, hatte, ein Gedanke, an meine Fähigkeit und Lust die Gedankenwege so zu gehen, dass sie nicht direkt von A nach B kommen, dass sie Umwege machen und auf diesen Umwegen noch weitere, scheinbar nicht dazugehörige Bilder mitnehmen, die dann eine Wirklichkeit für den Augenblick ergeben. Das tröstet mich. Das macht mein Kopf, weil er nicht anders kann. Und gäbe es die Kunst nicht, ich wäre mit diesen verschwenderischen Wegen meiner Gedanken nicht gut aufgehoben in der Welt.

Über diesem, meinem Kopf spielt ein kleiner Junge in seinem Zimmer. Es ist sein Zimmer, das über unserem kleinen Büro liegt, das wir haben in der Wohnung, um zu arbeiten, wenn die Zeit für den Weg ins Atelier nicht reicht. Heinz und ich teilen uns die Tage auf. Zwei Schichten. Einmal von 9-14 Uhr und einmal von 14-19 Uhr. Es reicht leider nicht ganz, darum kämpfen wir manchmal um halbe Stunden. Das kann humorvoll sein, aber auch nicht. Es kann vorkommen, dass ein Ich noch tief in Gedankenwegen, im Versuch, Körperlichkeit neu zu beschreiben und dann liegt da plötzlich ein Kind in den Armen des Ichs und Heinz verschwindet aus dem Raum. Ich bin dran, ruft er dann. Und weil der Wickeltisch auch im Büro untergebracht ist, steht das Ich dann auf und wickelt das Kind, das sich eine Faust in den Mund stecken kann. 

Liebe Dragica, nun habe ich das Gefühl des unorganischen Schreibens in mir. Viel zu viel ich. Und doch keine andere Möglichkeit, als das Material. Vielleicht besuchen wir die Blutbuche gemeinsam. Es wäre mir eine Freude und ich freue mich auf deine nächsten Worte, 

Deine Julia

Zürich, Rogoznica, 25.06.2020

Ich weiss, dass wir alle uns schwer tun mit dem Denken. Es ist eine schwere Last der Avantgarde, und die Sprachen sind vermischt wie in Babylon. Aber irgendwie wie durch einen Traum ist mir heute klar geworden, dass meine Chemie mich nur dann erfreut wenn sie organisch in mir ist. Sie ist organisch, wenn sie mir Freude bereitet während ich höre auf eine ferne Glocke …, das Bellen der Hunde in der Nacht, ein Zeichen nur für mich.“
Miljenko Stančić

On je sam tumačio: „Ja znam da se svi pomalo domišljamo. Da nam je teško breme avangardizma i jezici pomiješani kao u Babilonu. Ali negdje kroz san i danas mi je jasno da me moja kemija veseli samo kad je organska, a organska je kad me veseli i onda čujem ono daleko zvono…, lavež u noći, ima samo jedan znak za mene.“
Miljenko Stančić

Miljenko Stančić, Mala obitelj, 1961
Miljenko Stančić, San (Ljubavnici), 1963., inv. br. GMV GS 759

Liebe Julia

Ich sende dir ein wunderbares Zitat von meinem liebsten kroatischen Maler Miljenko Stančić, ein Zauberformel nicht nur für das Malen.
Deine Briefe sind wie Glücks-Spiegel in meinen Tagen hier, Wortstützen, Wortschätze. Ich habe einen Brief ungesandt geschrieben, aus dem „Affekt“ sagt man, aus ihm heraus, dieser „Affekt“ lag dann flach auf dem Bildschirm und schaute auf mich wie eine unvollständige Beichte. Nein, es handelte sich nicht um den Roten Faden welcher in die Tiefe zeigt sondern umgekehrt, ich lag tief und suchte ein Rotes Seil mich hochzuziehen aus der Traurigkeit, oder ist das Schmerz, welcher sich wieder ausbreitet aus alter Traurigkeit.
Und mit dem obigen Satz ist (glaube ich) der Knotenpunkt allen literarischen Schreibens entdeckt. Es braucht keine Poetik-Vorlesung, es braucht keine Einweisung in kreatives Schreiben, um in den Brunnen zu fallen allein. Du hängst dann auf dem dünnen Seil, es ist keine Schaukel, du musst dich selber herausziehen und darfst andere damit nicht hineinstürzen, du bist roh, authentisch, manchmal peinlich, manchmal berührend schaust du in die Tiefe. In diesen hängenden Augenblicken beginnt das Schreiben nicht, aber die Erinnerung an diesen Moment, wenn du wieder draussen sitzt, musst du behalten.
Du hast mir das Bild aus München gesandt, dieser Augenblick welcher auf mich über geschnappt ist, und so könnte ich mich mit deinem verschenkten Augenblick wieder aus dem Brunnen herausziehen. Fast ständig denke ich über den Satz von Ingeborg Bachmann nach, die „Wahrheit“ sei dem „Menschen zumutbar“, ich frage mich, ob die Wirklichkeit eines Menschen einem anderen zumutbar ist, ohne dass der andere sie verfälscht. 

Dass diese Briefe öffentlich sind, macht mir die Sache schwerer.
Die Geschichte könnte so aussehen, es gibt in der Kindertherapie einen Sandkasten, in dem man bauen darf und mit den Figuren spielen. 
Einmal gab es ein munteres, schönes, waches Kind, ein Mädchen. Es gab ein anderes Kind, kleiner, mit schönen Augen, und sie liebten sich. Ihre Eltern waren unglücklich und wollten, dass ihre Kinder, wenn sie gross wären, glücklich leben, so haben diese Eltern ihre Kinder mit Schlägen erzogen, ein zukünftiges „Glück“ erkauft durch Schmerz.
Die Kinder wurden gross, das Mädchen verliess den Bruder, suchte einen anderen und mussten einsehen, geschlagene Kinder sind einsam, schreiben oder trinken, oder beides.
Viele Jahre später, ihre Eltern sind alt und schwach geworden, sie haben ihren Verstand nur partiell behalten und sind auf Liebe und Fürsorge ihre damaligen Kinder angewiesen.
Diese grossen Kinder waren „ad negativ“ diesen Eltern nah, so sie schauen in sich, ob nicht womöglich in ihnen selber die Dämonen der Eltern sich verstecken, mit jedem Blick zueinander erzählen sie Geschichten, welche niemandem erzählt worden sind. Was sie noch immer haben, ist Angst vor den Eltern.
Die Verwandten, die ab und zu in diesen Sandkasten kommen und sich gutmütig benehmen wie der Chor im griechischen Drama, singen den erwünschten Text – es geht uns allen so, Menschen wachsen, sterben, werden krank, sie lieben, weinen, einmal, ein einziges Mal auf der Welt, und verputschen sich das Leben weil sie nicht anders können.
Dann kommt eine Hand, und die Sandfiguren liegen flach, diese gnädige Hand der erzählbaren Geschichte baut aus Worten etwas festere Figuren, die sie vertieft, verflacht, verdunkelt, erhellt, diese innere Hand verformt bis es erträglich wird, oder formt um bis es zerplatzt. Ja, diese Arbeit des Schreibens kann mir niemand abnehmen und ist ununterrichtbar. 
Aber nachdem ich das geschrieben habe, ich frage mich immer noch, was ich dir zugerufen habe, aber ich weiss es nicht, obwohl ich mir ständig (lach nicht) um dich Sorgen mache, das ist meine Art das zu sagen, heb die Sorgen … weil ich gesehen habe, wie viel du schreibst, ich hatte Angst, dass dieses berufliche Schreiben ständig die Inflation des „lebendig für sich wollen“-Schreibens überschwemmt, ich wollte dir das sagen aber wer war ich um dir das einfach zu sagen.
Mir ging es so mit Gedichten, irgendwann wusste ich wie ein anständiges Gedicht zu atmen hat, ich kannte die Bild-Metaphern-Gefühl-Zutaten ganz genau, was ich zu vermeiden suchte, war nicht zu wissen und mich im Wasser immer wieder zu ertränken, weil ich „funktionstüchtig“ sein musste. Dadurch musste ich innerlich mich von Gedichten, den dichten verabschieden, vor kurzem sagte mir ein Aussenstehender, ich sei in einem Schneckenhaus gewesen. So ein Schneckenhaus wünsche ich anderen nicht. 
Noch etwas geht mir diesbezüglich durch den Kopf, wenn ich im – nennen wir es noch immer „Affekt“ bin und etwas liefern muss, dann schweife ich herum, wie die Biene über den Pflanzen … Ich werde dann philosophisch.
Wie wäre richtige Temperatur für das Schreiben in sich zu fühlen?
Einige versuchen es mit dem konkreten Gleicher-Ort-Zeitraum-Rezept. Thomas Mann, der sich im Anzug hinsetzt und bis zwölf Uhr sein Pensum jeden Tag abliefert. Er hat wahrscheinlich nie etwas von der Realität des Unter-anderen-Umständen-Schreibens erfahren; kann man sich Thomas Mann in der Waschküche vorstellen oder ein Programm für Wolle suchen, während ein Kind an seinem Hosenbein zieht?
Mein Atmen fällt mir leichter. Ich zeige dir darum meinen vorher fast gelöschten Brief, der seine Gültigkeit wieder sucht.

Drei Tage früher …
liebe Julia 
dein Brief kam in der blauen Abendmeerwinddämmerung, Monet pur Stimmung, mein Bruder rief an, um Mutters Geburtstagsfeier kurz zu kommentieren, sie ist heute 81 Jahre alt geworden, wir waren auf drei Friedhöfen in drei Dörfern, haben Kerzen und Blumen gebracht, immer die gleichen Geschichten gehört, über Todesursachen, Schönheit, Armut, Schicksale der Toten halt.
Dann waren wir zum Essen in einem kleinen, für Touristen renovierten Hof; der Besitzer erinnert sich, 1958 war er in der kleinen Baracke, welche meine Eltern hinter dem Berg gebaut haben, er war zehn Jahre alt, er erinnert sich, welch schöne Stimme mein Onkel gehabt hat. Die Mutter erinnert sich an den Vater der Wirtin, der mit meinem Grossvater, dem Förster, befreundet war. Einmal ist eine Wand in Grossvaters Haus eingestürzt, und meine Tante wäre umgekommen, wäre sie dort gewesen, weil ihr Bett dort war, sein Freund, der Förster, der orthodoxe Jovan, half die Wand wieder aufzubauen.
Und so könnte ich dir einen ganzen Brief füllen, aber es ist nicht das, was ich dir schreiben will, sondern – warum ich so traurig bin, es ist so schlimm, weil ich an die Schauplätze, angeblich identische Orte wie im meinem Buch, gereist bin. Es gab Gräber-Marmorsteine, das Grün der Bäume, den Himmel, Tote, welche längst nicht mehr in den Gräbern sind, es gab die eine oder andere Erinnerung an Grossvater, Onkel, Tanten, aber eigentlich waren die Dörfer absolut menschenleer, ich fühlte mich so schuldig und wusste doch nicht, was der Kern meines Schuldgefühls war. 
Ich komme zu spät, ich war meine eigene Expedition, aber diese Expedition fand nicht mal eine Spur der Wirklichkeit aus ihren Landeskarten, alles schon vorbei, gestorben, verfälscht, müsste man über das Jetzt schreiben wie Handke, Jetzt, Marmorgräber, Gross, Grau, Weiss, Rasen sehr schön, Familiennamen vergoldet, dort wo die Häuser wie Ställe auf das Vieh warten. Ich habe in einem von diesen Dörfern neun Monate gelebt, Vater und Mutter bauten dann ein besseres Leben hinter dem Berg, am Meer, ich aber blieb mit der Grossmutter, weil zu früh geboren – und um das Mädchen wäre es nicht schade, wenn es gestorben wäre.
Grossmutter lebte dann mit uns hinter dem Berg und erzählte immer Geschichten aus ihrem Dorf, mir und meinem Bruder, wir sind heute noch eine wandernde Enzyklopädie des ersten und zweiten Weltkriegs im Dorf, also Namen, Orte, Verbrechen, Tratsch, alles dies erzählte unsere Grossmutter den kleinen Kindern in der Nacht, weil unsere Türen offen waren und sie musste laut mit sich reden, sie redete, bis wir sie fragten, wie kommen die Kinder in den Bauch oder wo hinaus, ob man lebt, wenn man tot ist?
Du sendest mir diesen roten Strick mitten durchs Bild, mit welchen man sich tiefer stürzt in die geheimnisvollen Abgründe des „wahren“ tiefen „Kreativen“. Wie schützt man diesen Eingang beim Abseilen. Mit was? Jetzt verstehe ich mein gestriges Schuldgefühl dieser äusseren Realität gegenüber. Während ich schrieb und diese inneren Orte zu ordnen versuchte, verging das Leben weiter und strafte mich der Unübersichtlichkeit, Verfälschung der Wirklichkeit zugunsten der geordneten Vergangenheit, welche ich so formen durfte, als ich tief nach unten mich bewegte, wie in der unterirdischen Wirklichkeit meines Dorfes.

Und dann sehe ich deinen Mann, wartend auf die Wäsche, und die Stille, eine Pause welche ihn bedrängt aus Tiefe, Tiefe, es doch zu fühlen, ja, ich musste mich abseilen, ja, es war nicht so, ja es ist meine Geschichte und jemandem Unbekannten gibt diese Geschichte Grund für Hoffnung, obwohl ich sie aus Schrecklichem herausschreiben musste, sie darf sein, trotz meiner Zweifel. Ja, während ich dir das tippe, stand ich gestern vor den Namen wirklicher Personen am Grab, sage zu H., im Buch heisst sie so, das ist ihre Tochter, sie kommt im Buch nicht vor, meine Auswahl, und als gäbe es zweimal Tote, einmal hier unten in der Erde und einmal in meinem Buch, und ich, die ich, um sie hinüberzuretten, mich der Fälschung schuldig gemacht habe, ich kam mir vor wie ein Zauberkünstler welcher seine Figuren versorgen muss weil sie zu flach gezaubert sind und beleidigen das Leben der Toten, ihr einziges wirkliches Leben.

Liebe Julia, ich bin heute noch leer, und vielleicht gehört das alles zum Abschied von dem Buch, zur Rückkehr ins „normale“ Leben, auch als Übergang zum neuen Buch, über welches ich nur einen Augenblick als Auslöser von dem Buch weiss, ein NEIN. Und um dieses Nein 1915 dreht sich in mir eine unbekannte Welt, in welche ich muss und von der ich nichts weiss, erst muss ich Material sammeln, die Realität aufsuchen, mich begleiten lassen, um nicht eben in die Tiefe zu fallen, weil ich nicht weiss, was ich überhaupt dort suche.

Ich komme zurück zu den Bildern von der Blutbuche, die du mir gesandt hast, über welche ich dann googeln musste. Stell dir vor, die sogenannte Mutterblutbuche stammt aus dem Possenwald nahe der Stadt Sonderhausen in Thüringen, ist 1690 geboren und hatte 11 Schwestern drum herum, die haben sich durch die ganze Welt dann ausgebreitet, erst im neunzehnten Jahrhundert. 
Ein Ort hat ihren Namen in der Nähe von Zürich. Buch ma Irchel. Legende sagte:
Ein Brüderpaar, als Habenichtse aus fremden Kriegsdiensten zurückgekehrt, wird durch die hier herrschende grosse Hungersnot an den Rand des Todes getrieben. Eines Tages gelingt es ihnen, einer Maus habhaft zu werden. Da jeder diesen Bissen für sich allein beansprucht, geraten sie in ihrem Streit in ein schlimmes Handgemenge, welches einer der beiden nicht überlebt. Das beim Kampf geflossene Blut färbt die Blätter einer am Tatort stehenden jungen Buche rot, die von da an rot geblieben ist. Sie ist 300 Jahre alt, lebt noch in der Nähe des Ortes, einen Ausflug werde ich machen dorthin.

Ich versuche mir wie ein Maulwurf Räume zu durchbohren zur Zuversicht an diesem Tag.
Gerade meine Tochter sendet mir eine SMS zu den Fotos von Omas Geburtstag, sie sehen, schreibt sie, idyllisch aus – wie war’s?
Und ich fühle wie ich meinen Kindern genau dies nicht geben wollte, Empfindlichkeit und ungeheure Skepsis zu den falschen Tönen um sie herum. 
Ich schreibe ihr, „Ja, es war so wie auf den Fotos“ – einen Augenblick lang ist das wahr.
Liebe Grüsse nach Zürich, habt eine gute und schöne Woche und bis bald, 
Anfang Juli bin ich dann in Zürich, und alles wird schon hier Vergangenheit sein, die Fotos wahrer und wahrer.
Deine Dragica 

In der Beilage zwei Bilder von Miljenko Stančić (dem Maler, der in meinem Buch vorkommt, seine Bilder sind eine Kurzzusammenfassung dessen, worüber ich geschrieben habe). Auch einen Schmetterling für deine Kinder und für euch sende ich mit.

©Dragica Rajčić

Zürich, Rote Fabrik, Juni 2020

Liebe Dragica

Danke für den Baum. Danke für deine Worte, die Kreise gemacht haben in meinem Kopf.

Heute, noch bevor ich deinen Brief las, habe ich etwas in mein Notizbuch geschrieben, nachdem ich mich erinnert hatte daran, wie gut das Schreiben, das ziellose Schreiben ist, wie ich es früher viel mehr, eigentlich jeden Tag machte, am Morgen zum Kaffee, als ich noch keine Auftragstexte und Kolumnen schrieb. Und darin kommt auch das Nicht-Leuchten vor. 

©Julia Weber

„Das rote Seil, das scheinbar das Gerüst der Schiffes, das ein Spielplatzschiff ist, zusammenhält. Es leuchtet im Regen, während alles andere hinter Milchglas liegt, in Farbflecken zerlegte Welt. 
Ich vor dem Milchglas und hinter dem Milchglas die Welt. Oder umgekehrt. Diese Unschärfe, die gut tut, in diesem Moment. Ich möchte in eine Tiefe steigen mit meinem Kopf und etwas begreifen, ohne dass es scharf gestellt wird. Dann kommt mitten in dieses Absteigen hinein, ein Gedanke an Fusscreme. Und ich kann sie nicht fernhalten, die Gedanken, nicht aufsuchen, die wichtigen. Fusscreme, dann eben Fusscreme in meinem Kopf.
Und mein Wunsch etwas zu begreifen, was tiefer liegt. Und meine Hoffnung, der Regen, das Milchglas vor der Welt, helfe mir. Und die Kindergartenmusik von unterhalb, der kleine Vogel, der auf der Fensterbank sitzt und mich nicht als Lebewesen erkennt, weil die Milchglaswand uns trennt.
So sitzt er und fürchtet sich nicht und ich sehe ihn als braunen, kleinen Fleck, und weil ich weiss, dass es ein Vöglein ist, sehe ich auch die Federn. Er ist schon lange weg. Pappeln sind schräg im Wind, mein Gesicht fühlt sich nass an, obwohl ich nicht weine, obwohl ich im Trockenen bin. Und wo bin ich? Und warum nochmals stellte ich die Dinge um mich so hin, wie sie nun hingestellt sind. 
Im Regen geht ein Mann mit Schirm, er hält ihn so, dass seine Füsse im Trockenen sind, aber weil seine Füsse so lang, fällt der Regen ihm hinten in den Kragen.
Stumm flucht ein Fleck im Regen.“

Liebe Dragica, als ich deinen Brief lesend an die Stelle kam, in der du über das Buch von Heinz schreibst, habe ich ihn angerufen. Ich rief ihn an, weil ich wusste, was du da schreibst, über sein Buch und wie du es formuliert hast, die Hoffnung auf unsere Generation, die wachsen kann, das muss er wissen. Denn ich weiss, was ihm die Fragen bedeuten, was ihn umtreibt und wie er kämpfte mit dem Material, mit dieser Geschichte, in dem auch ein Bruder steht, den es gab und eine Welt, die es gibt. Und als ich ihm am Telefon deinen Satz vorlas, verstummte er. Und ich fragte, ob das Tränen sind. Und er nickte wohl, aber das nützte nichts. Aber ich wusste es, an der Art des Schweigens und das Schlucken. Und hinten krächzte Romy vor sich hin, weil ihr der Hals in München entzündete. Und dann kamen die Worte wieder und er sagte, er stehe in der Waschküche und Romy sitze neben ihm in der Wippe und es passe gerade alles zusammen, er sei zu früh in die Waschküche gekommen, die Waschmaschine wasche noch fünf Minuten und nun würde er aus dem Fenster schauen und weil der Raum im Keller sei, er somit von unten nach oben in den Regen schaue, könne er das Aufprallen des Regens auf den Boden von unten sehen. Das passe sehr gut in die Situation.

Liebe Dragica, entschuldige, dass der Brief viel später kommt. Ich hatte eine Pause gemacht und jetzt liegen viel Zeit und Himbeeren und eine Reise nach Biel und Bewegung und Gedanken zwischen deinen, an mich gerichteten, und meinen Worten an dich zurück. Wieder sitze ich im Atelier und sehe den See, kein Regen, helles, scharfes Licht und die Bäume ziemlich gerade, ohne Bücken im Wind. Zwei Menschen, die sich umarmen, ihre Kleidung hat die Farbe des Sees und seine die Farbe vom Kies. So verschwinden sie in der Umgebung. Heute bin ich ganz funktional, kann in den Wolken nur Wolken sehen.
Darum suche ich keine Bilder mehr, gehe und küsse die kleine Romy hinter dem Ohr.

Hoffe deine Leere nach Abgabe des Manuskripts hat sich wieder gefüllt.
Freue mich von dir zu lesen.

Deine Julia

Rogoznica 16.06.2020 

Liebe Julia

Gestern haben wir ein Motiv zum Fotografieren gesucht, für ein Foto für dich, klar war, dass es Blumen werden, aber es sei eine Stunde zu spät, sagte H., und es wird nicht so leuchten, wie es leuchten sollte in der ganzen Schönheit. 
Das erinnerte mich an ein Gedicht aus der Schulzeit –
Gle malu voćku poslije kiše von Dobriša Cesarić, welches, glaube ich, jeder Mensch in diesem Land auswendig kann, falls der Dichter Dobriša Cesarić (1902-1980) noch im Curriculum des Literaturunterrichts geblieben ist. Nach 1991 war Stunde O in Kroatien, und alles musste neu zusammengeschneidert werden, so auch die Schullektüre, und nicht nur die Geschichte wurde gesäubert von der Vergangenheit, aber dies passiert hier wie normal, immer etwa nach 50 Jahren beginnt die Geschichte von vorne, im Schatten der Kriege kommen frische Hemden mit.

Gle malu voćku poslije kiše:
Puna je kapi pa ih njiše.
I bliješti suncem obasjana,
Čudesna raskoš njenih grana.

Al nek se sunce malko skrije,
Nestane sve te čarolije.
Ona je opet kao prvo,
Obično, jadno, malo drvo.

Ich übersetze es schnell für dich:

Schau den kleinen Obstbaum nach dem Regen:
Er ist voller Tropfen, die er schaukelt,
und strahlt, mit Sonne bestrahlt 
die zauberhafte Pracht seiner Äste.

Aber kaum versteckt sich die Sonne ein wenig
verschwindet diese ganze Verzauberung.
Der kleine Obstbaum ist wie am Anfang
ein gewöhnlicher, armer, kleiner Obstbaum.

©Dragica Rajčić

Und während ich übersetze, weiß ich, wieso ich fast nie aus dem Kroatischen übersetze, 

Voćka ist der Obstbaum, aber weiblich gedacht, 
und das ganze Gedicht auf Kroatisch, auch mit Voćka zeigt es
ihre Zerbrechlickeit … mala voćka … also es wird den Wörtern Gewalt angetan.

Das Gedicht lässt mich immer Mitleid empfinden mit mala voćka, denn man weiß, dass es die Sonne ist, welche den Zauber verursacht. 
Dein Balkon im Schatten, aber jetzt gemalt, damit wieder die Sonne Farbe zeigt. Ich habe dieses Gedicht immer wieder im Kopf, wenn es einen Abschied gibt, wenn die Festtage zu Ende sind, dieses Umkippen aus dem Glück in sein Ende ertrage ich schon am Anfang des Glücks fast nicht, ich sterbe schon in der Vorfreude mit Blick auf sein Ende.

Ich sehe dich auf dem traurigen Balkon. Das Glück der Stille, Silence, Ruhe, der Unbetriebsamkeit nach der Abfahrt der Kinder ins Lager, damals räumte ich auf, trotz Verbots auch ihr Zimmer, dann auf dem Balkon: Rauchen, Musik hören, Briefe schreiben, damals schrieb man wirkliche Briefe an Freundinnen, dann Lesen, dann Tee trinken, dann durch die leere Wohnung gehen. Stimmlos, verstummt, nur Gegenstände, welche unbeweglich waren, an ihrem Platz, dann leere Töpfe und keine Telefonanrufe, am Abend kein «Geht schlafen, aber jetzt».
Hörte ich irgendwo draußen Mama rufen, zuckte ich zusammen, ich war nicht gemeint. Und von da an sehnte ich mich so sehr nach all dem, was mich Tage vorher unsäglich aus den Nerven geworfen hat. Ich habe diese Zeit damals nur meinen Brieffreundinnen Erica Engeler und Christine Fischer geschildert, weil wir im gleichen Alter waren und alle Kinder hatten und uns in derselben Haut befanden, ich arbeitete immer hundert Prozent neben drei Kindern und ab und zu hatte ich drei Jobs gleichzeitig (nur dass du weißt, woher meine berechtigten Schuldgefühle kommen). Du hast dieses „Selber-Kind-Sein nicht verlernen“ erwähnt, die Wahrheit des Schreibens, beides unentbehrliche Werkzeuge aus der Sicht der Welt für die Literatur.
Wie zerbrechlich ist die Gewissheit der großen Wahrheit, wenn mir schon die kleine unter den Fingern zerrinnt, und das Sonnenlicht, welches sie bestrahlt, sich plötzlich verdunkelt. Es kommt auf die Perspektive an, auf die Einstellung der Kamera im Herzen und im Kopf.
Jetzt denke ich, ich hab schon die zweite Seite angefangen, ohne den Rassismus zu erwähnen, ich habe deine Kolumne gelesen und deine Vorsicht verstanden, nicht noch mehr zu zerstören durch nur reden ohne tätig zu sein.
Was ich es zum Schreien finde, ist das: Wie bei MeToo, man wird in einer intimen Weise mit Aussagen der Betroffenen konfrontiert, ach, ja, schau da ist das Holocaust-Opfer, da ist das Vergewaltigungsopfer, da ist der diskriminierte dunkelhäutige Mensch.
Es sollte doch im 21. Jahrhundert selbstverständlich sein, dass es eigentlich eben nicht gut sei, Menschen zu verbrennen, sie zu vergewaltigen und als Sklaven zu behandeln.
Das passiert in denselben zivilisierten Ländern, welche mit ihrer Politik und Wirtschaft noch immer in jeder Ecke Ressourcen ausbeuten, Ressourcen der Dritten Welt, Schwarz-Geld in den Banken horten, Waffen exportieren, ihre Frauen miserabel bezahlen, ihren Migranten keine politischen Bürgerrechte gewehren-gewähren.
Zur Schwarzenbach-Initiative sagt man, die Mehrheit der Schweizer Männer habe sie knapp abgelehnt; aber seit das Frauenstimmrecht herrscht, hat sich die Ausländerpolitik in der Schweiz nicht besonders geändert, ein Viertel der Einwohner zahlt Steuern und hat nichts politisch zu sagen. Oder wie Max Frisch sagte, es kamen Menschen, aber das wurde gern übersehen. 
Ich glaube, dass die Zeit gekommen ist, etwas zu benennen so wie es schon lange da ist, damit man sich eine gewisse begrenzte Zeit schämen soll dies miterlebt zu haben aber untätig geblieben zu sein, und jetzt geht es aufwärts, aus Einzelfällen politische Handlungen abzuleiten, erst auf der Straße, dann in Gesetzen, dann und immer wieder in allen Köpfen.
Ich muss dir sagen, ohne mich bei dir einschmeicheln zu wollen, im Buch von deinem Mann, in den nächtlichen Spaziergängen und Dialogen seiner Figuren durch Münchens Kneipen habe ich das erste Mal seit langem dringliche Fragen so behandelt gefühlt, dass mir die Hoffnung auf eure Generation wieder gewachsen ist.
„Ich bin ja privilegiert“, sagen in letzter Zeit viele von uns, und nach diesem Satz kommt ein ABER, und nach ABER eine solche Selbstgerechtigkeit, auf der richtigen Seite sich zu sortieren, dass mir Augen und Ohren weh tun.

Jetzt bin ich von dem Baum ‚Voćka weg und bin nach München gereist und zeitlich in die USA, und Stop.
Inzwischen ist Nachmittag, ein riesengroßer Lastwagen kutschiert durch die kleine Straße vor dem Haus. Diese engen Straßen findest du hier in jedem Ort, die Durchgangswege sind mit Rechthaberei, Streit vor Gericht und mit vielen hungrigen Mündern verbunden, Erde sei hier selten, darum muss man jeden Zentimeter für sich und nicht für die Allgemeinheit behalten. Seit Österreich-Ungarn sind die Grundbücher nicht verändert worden, so liegt jeder mit jedem in mündlichem und oder schriftlichem Streit wegen dem Grundbesitz, viele sind tot, gestorben in den USA, und ihre Nachkommen wissen nicht, wem was wie gehört. Darum, dieser große Lastwagen gehört nicht in eine so enge Straße, es stehen da ein paar Männer, welche ihm aufzeigen, wie viele Zentimeter er noch rückwärts gehen kann oder nicht, es ist unglaublich, mit welcher Geduld er diese Einweisungen ausführt.
So komme ich zum scheinbar schon ausgeschöpften Thema der körperlichen Arbeit und ihrer Wertschätzung. Ich bin ein Kind von Arbeitern und wurde im sogenannten Arbeiterstaat geboren. Diese nur 45 Jahre alte sozialistische Geschichte ist mit dem Jugoslawien-Krieg begraben worden, wortwörtlich, ich selber habe nur 18 Jahre hier gelebt, aber mein Blick auf die Welt ist hier entstanden, und alles, was ich in der ersten Zeit in der Schweiz sah, habe ich in Vergleichen gesehen. Arbeiten sei schmutzig und für die Angekommenen gedacht, putzen, bauen, pflegen, das machten andere, und ich gehörte zu ihnen; aber weil sie Migranten sind, hat man Probleme mit ihrer Kultur und nicht mit ihrer Stellung in der Gesellschaft – so entledigt man sich des Nachdenkens über die Wirklichkeit der schwer Arbeitenden.

Jetzt frage ich mich, was ich dir zugerufen habe, da an dieser Türe in Basel, im Vorbeigehen: einen Spruch, eine Aufmunterung oder eine Absurdität. Es passiert bei mir automatisch, diese Vor-lauter-Angst-Schutzsprüche, welche schweben und manchmal deplatziert sind.
In einem Traum, vor ein paar Tagen, glaube ich, sagte ich, ich bin zerbrechlich, siehst du das nicht; das sagte ich, glaube ich, zu meinem kleineren Bruder, der mich immer als stärkere sah, so fühlte ich mich dann auch ihm gegenüber. 
Eigentlich habe ich eine Stelle bei Musil gefunden, welche ich dir noch abschreiben wollte, als Dazugeschenk zum Baum. 
Ich werde es bis zum Ende unseres Briefwechsels vielleicht doch schaffen. Gestern habe ich die Fahnen meines Romans nach Berlin geschickt, und ich lag im Bett, leer, traurig, dann dachte ich, wie ich als Kind solche Zustände einfach gefühlt hatte, und dann plötzlich waren sie verschwunden, ja, dann gingen wir das Baumfoto für dich machen.

Entschuldige das Zu-Viel von allem und das Zu-Undeutliche, die Sonne strahlt ganz fest, und wir gehen wieder schwimmen, bis bald, ich freue mich sehr auf deinen Brief und kann ihn kaum erwarten.

Deine Dragica

13. Juni 2020, Zürich 

Liebe Dragica

Dein Meer habe ich gehört, in den Zeilen, es gurgelte und war die Bewegung einer zusammenhängenden Masse und roch nach Sonnenlicht und den Geschichten und dem Schaum, der manchmal auf dem Meer liegt. Danke für diese Worte, die so nahe beieinander sitzen, ein Muster ergeben, ein versöhnliches, auch weil sie kleinste Leerstellen lassen, die ich mit mir selbst füllen kann. Dieses Selbst, also ich, sitze auf einem kleinen Balkon an der Seebahnstrasse in Zürich, hinter mir die Wohnung, in der ich lebe und im Radio eine moosige Frauenstimme, die leider vom amerikanischen Präsidenten spricht. Ich habe diesen, meinen Balkon, in einer Geschichte einmal als traurigen Balkon beschrieben, einen traurigen, rauchenden Mann auf ihm, der seine Zigarette so lange in der Hand hielt ohne an ihr zu ziehen, bis auch der Filter abgebrannt war. Den Balkon habe ich als Ort genommen, weil er so klein, dunkel und Traubenfarben war, so passte er zu der Traurigkeit der Figur, die auch meine war in jener Zeit. Das ist mehr als ein Jahr her, dann haben wir ihn weiss gestrichen, Heinz und Nelly und ich und dann kam Romy zur Welt und alles wurde noch viel heller. Ich sitze hier, Krähen krähen und Wind bewegt die Blätter in der Blutbuche vor mir, etwas vom Schönsten, was es gibt. Das ist auch Heimat, dieses Geräusch der Blätter, die aneinander kommen im Wind. Ein sehr leiser, weit entfernter Applaus, vielleicht. Heinz ist mit Nelly und Romy nach München zu seiner Familie gefahren, weil die Grenzen wieder offen sind und seine Familie ihn und er seine Familie vermisste. Ich bin hier geblieben und die Stille ist meine eigene. Zum ersten Mal seit es Romy gibt, erst neun Monate in meinem Bauch und dann neun Monate ausserhalb, werde ich drei Tage ohne sie sein. Es ist eine Freiheit, die jetzt bei mir ist und auch ein Vermissen, aber ein warmes, eines mit weichem Fell, ein An-jemanden-denken-Können, den man liebt, ohne etwas tun zu müssen, für ihn. Und doch gibt es da, im Kopf ganz weit hinten, unter dem Haar, unter der Schädeldecke, oberhalb des Nackens dieses Stimmchen der Gesellschaft, die Anforderungen oder Meinungen zum Muttersein, die wohnen da irgendwo und sie sagten mir, als ich das Kind küsste, an seinem Haar roch und einmal in die gepolsterte Haut des Händchens drückte, es ins Auto setzte, dass das die Mutter nicht soll, wenn das Kind so klein ist, das Kind ohne die Mutter in ein anderes Land. Das ist eine Schuld, die eigentlich nicht meine ist, die komisch spricht in rosafarbenen, klebrigen Sätzen. Und dein Brief hat mich in einem Moment erreicht, versöhnt, wie du geschrieben hast, dein Fenster zu meinem geöffnet, die Fehlerhaftigkeit der Kindheit und das Schuldgefühl. Gibt es diese Schuld nicht immer? Weil ein Leben in den eigenen Händen liegt? Die niemals es richtig tragen können an immer den richtigen Ort? Weil wir so viel Einfluss nehmen, auf dieses Leben und gar nicht anders können, als auch falsch zu sein, weil wir sind, wer wir sind?

©Julia Weber

Im Hof, in dem die Blutbuche steht, steht nun auch eine Frau, sie spricht mit einer Stimme aus Gummi. Geschirr höre ich, das vom Tisch genommen wird und irgendwo versorgt. 
Aneinander vorbei gegangen sind wir, das stimmt und manchmal hallo gesagt, einmal auch hast du mir etwas zugerufen, vor vielen Jahren an der Buchbasel, aber ich habe dich nicht verstanden, dann warst du weg und ich wusste aber, wer du bist und freute mich über dein Rufen, die an mich gerichtete Energie, von der du, so hörte ich und las ich in deinen Texten, eine Menge hast. Und so braucht es nur so wenige Worte und ein Fenster öffnen und schon ist da eine Vertrautheit. Und in dieser, auf die ich antworte, auf dein Berichten von deinem Meer, ist aber auch ein seltsamer Gedanke an die Mitlesenden. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Ein seltsames Gefühl, auch bei mir, ein Reflex, sich zu ducken, weil es vielleicht nicht viele angeht und es aber nicht tun, nicht ducken, weil darin der Wert des Schreibens liegt. 
Komische Welt, denke ich. Die Stille. Und ein gutes Gefühl beim Schreiben an dich. Einmal nur die Wahrheit reden, wie deine Tochter dich bat. Das machen wir doch, das ist unser Beruf. Und gerade jetzt, an dich schreibend, liebe ich ihn.
Die Wahrheit ist auch, ich war in Tansania zuhause, aber bin nie dorthin zurückgekehrt. Ich war einmal da, das schon, letztes Jahr und war sehr hell und leicht abwesend mit Seidenhemd (wie schön du das mit dem Sonnenhut geschrieben hast). Es geht nicht. Die Geschichte des Kolonialismus zu schwer und das Fremdsein zu gross. Ich kann darüber nicht schreiben. Habe in der letzten Kolumne zum ersten Mal darüber etwas geschrieben und hatte grosse Angst. Das ist ein Problem. 
Bewahrst du dir das Kindsein im Schreiben? Das klingt nach Konfetti auf der Strasse liegen geblieben, im Regen, ich weiss. Aber ich fühle es manchmal so. Man wird älter, die Jahre springen weg (auch so ein gutes Bild), man baut sich immer mehr an sein eigenes Gerüst und auch die anderen Bauen etwas daran und irgendwann ist man schwerer und auch so definiert und als Kind ist da eine Autonomie mit einem im Baumhaus. Und diese Autonomie, diese Welt, in die mir niemand reinkommt ohne, dass ich es will, die bewahre ich mir im Schreiben, so gut es geht. Mit aller Kraft. 
In Kroatien war ich auch einmal in einem Meer, aber das prägendste Erlebnis hatte ich im Landesinneren. Im Sommer 2014 fuhren wir an eine Hochzeit nach Mazedonien, hielten in einem kleinen Ort, dessen Name ich vergessen habe, dort schliefen Heinz und Nelly und ich in einem riesigen Hotel, in dem ausser uns aber niemand war. Beim Frühstück machte der Mann, der an der Rezeption gearbeitet, unser Zimmer aufgeräumt, das Frühstück zubereitet hatte, ein Rührei für uns. Und es war so sehr versalzen, das Rührei und es war aber so aufmerksam und freundlich von diesem Mann, dass wir es nicht essen, aber auch nicht stehenlassen konnten. Darum haben wir es in die Zeitung (Die Zeit) eingewickelt, die wir dabei hatten und es mit ins Auto genommen. Bis nach Serbien kam es mit uns mit, das Rührei, versalzen und die Erinnerung an den Mann im Hotel ist immer noch da.
Und nun ist die Frau mit der Stimme aus Gummi verstummt. Ich bleibe noch etwas hier sitzen, denke an meine Kinder, die auf den Bodensee zufahren, denke an dich, wie das Muster deines Kleides, dass du auf dem Bild trägst, das aufgenommen wurde, von deinem Sohn, der Geburtstag hatte, als du den Brief an mich schriebst, zum Muster deiner Worte passt. Ich lasse ihn grüssen und gratuliere ihm und dir.

Bis bald,
Deine Julia

12.06.2020 Rogoznica, Kroatien 

Liebe Julia

seit gestern Abend weiß ich, dass du meine Briefpartnerin sein wirst, das erfuhr ich ausgerechnet am Geburtstag meines Sohnes, der im gleichen Jahr geboren ist wie du, du in Tansania und er in der Schweiz. Man könnte sagen, ihr seid Kinder von Migranten – wann hört man auf Kind zu sein oder Migrant? Ich schreibe auch deswegen du obwohl wir nie eine Sekunde glaube ich geredet haben, nur lächeln im Vorbeigehen erkennen dass man sich kennen sollte durch Bekannte, oder habe ich vor lauter Aufregung in Biel am Literaturinstitut nur die Gesichter meiner Klasse später erkannt? Es ist auch lange Zeit her seit dem, Jahre springen schnell weg.
Ich zögere indem ich die Rahmen stecke, ich habe heute Morgen große Angst öffentlich zu schreiben, vor allem zur Generation meiner Kinder. Das Schuldgefühl irgendwie etwas gut machen zu wollen, irgendwie aus dem eigenen Ungenügen entweder belehrend oder unterwürfig zu werden, sie verkennen oder erkennen aber aus Feigheit lieber sich ducken als das Gedachte zu sagen. Zum anderen öffne ich mit Briefen meine Fenster zu deinen, um auch meine Kinder besser zu verstehen, ohne die ganze Fehlerhaftigkeit ihrer Kindheit als Bumerang fühlen zu müssen. Jetzt sagt eine Stimme, aber Julia ist Schriftstellerin, Mutter, Ehefrau, Freundin, sie selber. Als meine Tochter mich am Radio, wo ich ein Interview gab, hörte, sie war glaube ich sechzehn, sagte sie, kannst du einmal nicht die Wahrheit reden auch am Radio? Die gut formulierende Frau, aber die Mutter, verfremdet durch den Radioapparat, Stimme reduziert nur auf Gedanken ohne umfassenden Blick in unsere Realität, welche im dalmatinischen Dialekt sich abspielte. Aber ich bin Schriftstellerin im Radio, hätte ich sagen sollen, oder habe ich es gesagt?
Ja, wie soll ich auf diesem Seil, falls es ein Seil ist (wenn ich so was schreibe, sage ich, du bist über sechzig), als wäre das eine Formel für irgendetwas Bedeutendes was mich schützen sollte. Gestern schwamm ich im Meer, nicht in irgendeinem Meer, sondern in „meinem“ Meer, nur dreißig Minuten trennten mich vom Meer meiner Kindheit. Ins Meer, bedeutet immer noch für mich, zum Touristen zu werden, jemand anderer, welcher ans Meer kommt um der andere zu sein, leicht, abwesend, mit Sonnenhut. In diesem Ort, wo wir eine kleine Ferienwohnung haben, glauben viele, ich sei Ausländerin, weil ich Deutsch spreche mit H. und blonde Haare habe, wie halt so meistens Ausländerinnen haben.
Ich hab als Kind, bis ich zehn war, bevor wir umgezogen sind, glaube ich, fünfmal im Meer gebadet, jedes Jahr nur einmal. Es lag daran, dass unser Haus auf der Makadam-Straße drei Kilometer vom Meer entfernt war und die Eltern viel zu arbeiten hatten. 
Ich war fünf, und mein Bruder drei, der Vater hat ihn auf das Velo vor sich hin gesetzt, und sein Fuß verletzte sich, im Fahrrad eingeklemmt, Blut, Mutters Schreie, eine Ohrfeige bekam sie sofort, die einzige welche ich gesehen habe. Sie eilten zur Ambulanz, und ich blieb mit Großmutter allein zuhause, ich habe meinen Bruder so gehasst weil er mir das erste Mal Im-Meer-Baden versaut hat, später als er zurückkam mit dem Fuß im weißen Verband versteckt, mit geschwollenen Augen vom Weinen, schämte ich mich meines Egoismus. Nicht dass ich damals gewusst hätte was Im-Meer-Schwimmen überhaupt bedeutet, alles Wissen kam nur aus dem Mund der Erwachsenen, und dieses Wissen war nicht verarbeitet für Kinder-Ohren, so musste ich notgedrungen meine Fantasie aufschwellen lassen als ältere Schwester. Das Meer war auch nicht verfügbar für uns wie für diejenigen später aus der Schulklasse, welche durch Fenster zu ihm hin sahen. Meine Eltern kamen in den neuen Ort, vom alten etwa zwanzig Kilometer Luftlinie entfernt, waren Nachfahren der Kleinbauern und Viehtreiber, diese Dörfler konnten nicht schwimmen, schwimmen war für dokoni, dokoni, sagte meine Großmutter, seien die, welche Zeit, Langeweile haben, normale Menschen haben immer was zu tun um am Leben sein zu können.
Du siehst wie ich durch Abwesenheit im Ausland mich dazu zähle zu denen, welche schwimmen sich erlauben dürfen, weil sie nicht Einheimische sind.
Aber jetzt wo die Strände praktisch leer sind, schwimmen die Einheimischen nicht im Meer weil es zu kalt ist, 20 Grad C ist für sie kein Schwimmwasser und wäre H. nicht aus Tirol, käme mir nie in den Sinn, ins Wasser zu steigen. In der Limmat, ich habe zehn Jahre in der Wasserwerkstrasse gewohnt, habe ich selten geschwommen, ich behauptete ich mag die Farbe des Wassers nicht, grün, und ich komme vom Meer, sagte ich, als wäre das ein Qualitätssiegel, wie „Essen Sie nur Biologisches aus der Schweiz“.
Also, ich werde Musilisch – immer im Sommer wenn wir hier sind lese ich den Mann ohne Eigenschaften so stückweise, anders kann man es nicht, wie dass beim So-viel-des-Guten der Kopf aufgeht, er wird schwer, wenn man zu viel von dem auf einmal liest. 
Was wollte ich noch mit Schwimmen sagen? Ich bin im Meer zu dir geschwommen, denke, während ich schwimme, über diese Umwandlung des Realen in diesem Meer jetzt mit dem Meer von gestern. Es kam mir in den Sinn was ich dir schreiben könnte – die Heimat dem entsprechend wäre eine Landschaft, aus der ich leichter die Illusionen, Fantasien, Kindheitsbilder herholen, herunterladen kann. Der Dialekt, die Lieder, das Vogelgezwitscher, alles dies sei eine Erinnerung, was ich gedacht, mir vorgestellt habe. Es ist handgreiflich nah und für immer fühlbar, nicht Suche nach der verlorenen Zeit sondern Suche nach dem Erwachen der gleichen Sehnsucht nach einer Zukunft welche sich in einer anderen realen Zukunft aufgelöst hat. Sich sehnen …
Wenn ich nach St.Georgen die Treppe hoch steigen würde, würde ich an das Baumhaus denken welches mein Sohn und Miguel dort gebaut haben noch in der Unterstufe, um sich vor allen zu verstecken bevor jemand sie heruntergerissen hat. St.Gallen ist der Ort der Kindheit meiner drei Kinder, und dort versuche ich mich in sie damals einzufühlen, ja Melinda Nadj Abonji hat mir die Kindheit meiner Kinder nahe gebracht, genau das Verschwiegene, was ich nicht wissen wollte und konnte …!!!??
Liebe Julia, wie immer am Morgen schreibe ich automatisch diesen Brief, damit ich nicht aufgebe, automatisch heißt nicht kopflos, sondern ich versuche nicht Gedanken gerade zu biegen aber ich bin erleichtert über den ersten Brief hindurch gekommen zu sein. Ich stelle mir sehr lebhaft deinen, euren Alltag vor, und es braucht wenig Fantasie zu wissen dass du schön, gut, intelligent, schnell mir antworten wirst, die Rationalität der vorhandenen Zeit zum Schreiben wird deinen Sätzen diese Prägnanz geben welche ich mir mit so viel Zeit wünsche, aber meine Hände sehnen sich auch nach dieser Zeit mit meinen kleinen Kindern, wo ich die Sätze im Kopf glaubte zu speichern für morgen … und jetzt, wo sind sie, vielleicht mit dir kommen sie zurück …

Bis sehr bald,
Deine Dragica 

Foto: Dragica Rajčić

Cara Roberta. ist ein Kooperationsprojekt von Literaturhaus Liechtenstein, Literaturhaus & Bibliothek Wyborada, dem SAAV und literatur.ist.