Datum
18.04.2023
Kategorie
writers:class
Schlagworte

Wenn „Anfang“ und „Ende“ nur zehn Zentimeter voneinander entfernt liegen….

…dann befindet man sich wahrscheinlich auf der Suche nach Wörtern im öffentlichen Raum mit Ruth Schmiedberger und der writers:class.


©Frauke Kühn

Die beruhigenden Töne eines Akkordeons klingen durch den Theatersaal der Mittelschule Bregenz Rieden. Autorin Ruth Schmiedberger lässt „La Valse d’Amélie“ spielen, während die Schüler:innen der Klasse 1a ihre Gedanken und Ideen zu Papier bringen. Automatisches Schreiben ist eine beliebte Schreibübung in der writers:class, denn alle Gedanken können losgelassen werden. Umar möchte vorlesen: „Hallo – nichts, nichts, nichts, nichts, 1+1 ist gleich 13.“ Die Schüler:innen lachen. Ist das erlaubt? Ergibt der Text Sinn? Das ist hier nicht wichtig, nicht auf den Brettern, die die Welt bedeuten, nicht in der writers:class.

Selima liest vor: „Sie ging in ein altes Gebäude. Ihre Freunde gingen ihr nach, auf das Dach, wir waren umgeben von Wasser, ich hoffe, ich hab in Englisch keine drei, hab Hunger, hahahahahah, alle meine Entchen ertrinken im See.“

„Sprache ist für mich Heimat, im besten Sinn des Wortes: eine Herberge des gegenseitigen Verstehens.“ (Ruth Schmiedberger)

In der writers:class geht es nicht darum, alles richtig zu machen, sondern um den Fluss von Sprache, die Möglichkeit seine Gedanken auszudrücken, sich fallen zu lassen und sein zu dürfen.

Ephraim: „Ist es gut, ist es gut, ist es gut, ich will Papierflieger machen, ich will Computer spielen, ich will raus, mir fällt nichts ein, mir fällt nichts ein.“

Heute wird die Klasse in zwei Gruppen geteilt, um auf einen ungewöhnlichen Spaziergang zu gehen. Die Klassenlehrerein Ewa Fritz geht mit der einen Hälfte links um das Schulgebäude herum, Ruth Schmiedberger mit ihrer Klassenhälfte rechts. Die Aufgabe: „Findet Wörter! Wo im öffentlichen Raum findet ihr welche Wörter? Sammelt sie, schreibt sie auf!“

Nachdem der Blick einmal in die richtige Richtung gelenkt wurde, sehen die Schüler:innen fast nichts anderes mehr. Volksschule Rieden. Der bekannte Schriftzug auf dem Nachbargebäude wird nun eine begehrte Trophäe. „Ich hab schon ein Wort!“ „Erst eins?“ wird gerufen und eine bis dato unbekannte Sammelleidenschaft macht schnell die Runde. Wörter verstecken sich plötzlich an den unscheinbarsten Orten.

Wenn „Anfang“ und „Ende“ nur zehn Zentimeter voneinander entfernt liegen, dann befindet man sich wahrscheinlich auf der Suche nach Wörtern im öffentlichen Raum mit Ruth Schmiedberger und der writers:class.

In Wahrheit standen beide Wörter auf Verkehrsschildern, die den Anfang und das Ende des Schulgeländes kennzeichnen. Wahre Freude kommt bei den Schüler:innen auf, als sie folgende Wörter finden: Ländle-Raclette, Servus di Wadln – die Werbetafeln am Straßenrand sind wahre Wortschätze in dem Moment.

Fast wären sie an einem weiteren Wortschatz vorbeigelaufen: Gasthaus-Freundschaft. Und auch der mit Graffiti an die Wand gesprühte Satz Coco ich liebe dich wird nicht von allen bemerkt. Viel zu schnell wandern die Blicke zu Schildern, Auto-Kennzeichen, Stickern und Müllkübeln, denn Sprache versteckt sich überall, dabei scheint sie nun so offensichtlich zu sein.

Foto © Frauke Kühn

Die Schüler:innen kommen aus dem Schreiben und Sammeln gar nicht mehr heraus. Bis zum Spielplatz geht der Weg und die Seiten der bunten Notizbücher sind schon voller sprachlicher Sammlerstücke. Erst zurück bei der Schule ruft eine Schülerin voller Begeisterung aus: „Schul-frei-raum!“ Sie hat es zuerst gesehen, das Wort, das in seine Einzelteile zerlegt wurde, um sich und seine Möglichkeiten zu offenbaren.

Ganz nach Ruth Schmiedbergers Credo „Sprache ist Welt, Text ist Strom, Schreiben ist Leben“ haben die Schüler:innen heute erfahren, wie Sprache auch funktionieren kann, wenn man sie sieht.

In der zweiten Schuljahreshälfte hat Autor und Waldpädagoge Jürgen-Thomas Ernst die writers:class der Mittelschule Bregenz Rieden übernommen. Bei ihm steht nature writing, das Scheiben in der freien Natur im Fokus. Der wortreiche Spaziergang mit Ruth Schmiedberger war also nur der Anfang einer gemeinsamen Geschichte, die auch „nach zehn Zentimetern“ noch kein Ende findet.

Danke an die Schule Rieden, an Ruth Schmiedberger und Jürgen-Thomas Ernst! Mit freundlichster Unterstützung des Landes Vorarlberg!