Donnerstag, 4. Juli 2019: 50 Stühle
Während ich die 50 Stühle aufs Neue zurechtrücke, verwandelt sich der verwilderte Park fast unmerklich in eine kleine Bühne mit Publikumsreihen. Mein Team kommt an. Zusammen richten wir Getränke und kleine Snacks her, einen Lesetisch mit Mikrophon, und ich hänge viel zu kleine Lichterketten am untersten Blattrand der meterhohen Bäume auf. Nach und nach füllt sich der Park auch mit Autorinnen und Autoren und unseren Gästen. Gemeinsam werden wir alle heute das literarische Leben im Park des künftigen Literaturhauses Vorarlberg eröffnen. Kurz bevor die Lesung beginnt, fällt mir ein, dass ich tatsächlich vergessen habe, eine Begrüßung vorzubereiten. Mir wird ein wenig flau, doch dann entschließe ich mich, einfach das zu sagen, was mich in diesem Moment bewegt. Ich bin dankbar für all die vertrauten Gesichter und die noch unbekannten und dafür, dass wir uns alle an diesem Abend an diesem Ort begegnen dürfen. Dass es so kommen durfte, ist nicht selbstverständlich, eigentlich ist es eher ein Wunder. Aber ein Wunder, das von vielen Menschen gemeinsam möglich gemacht wurde. Sie alle glauben mit uns daran, dass die Literatur in der alten Villa Iwan und Franziska Rosenthal auf wertvolle und einzigartige Möglichkeiten treffen wird.
Den ganzen Abend schweben verschiedenste Lesestimmen in unterschiedlichen Sprachen durch den Park, begleitet vom Applaus und hin und wieder auch dem Lachen des Publikums. Am Ende wird sogar ein Lied gesungen. Wann wohl zum letzten Mal hier draußen gesungen wurde? Mit der Sonne geht das Licht, gehen die Stimmen und die Menschen. Wir verabschieden, schütteln Hände und umarmen mit dem Gefühl, dass uns alle dieser Abend zu einer unvergesslichen und besonders schönen Erinnerung werden wird. Wir sammeln die 50 Stühle wieder ein, hängen die Lichterketten ab und verschließen sorgsam alle Türen der alten Villa. Als ich an meinem Auto stehe, merke ich, dass ich eine Tasche im Haus vergessen habe. Ich gehe zurück und betrete die stille und stockdunkle Villa allein. Das Taschenlampenlicht meiner Handy-App fliegt als greller kleiner Lichtkegel über die kunstvoll verzierte Türklinke, den fein gemusterten Fußboden, über die Spinne in der Garderobe, die wahrscheinlich seit 20 Jahren unverändert und kalkweiß in ihrem Netz hängt, über den Riss in der Wand zum alten geschwungenen Treppengeländer. Meine Tasche steht auf der untersten Treppenstufe. Auf meinem Weg zurück zum Ausgang habe ich das Gefühl, dass das Haus für heute genug hat. Ich drehe den Schlüssel und höre das Schloss zuschnappen. Zumindest heute Nacht kommt niemand mehr zurück.
Frauke Kühn
Dieser Text stammt aus der ‚buchmarie‘, die 2019 im Rahmen eines gemeinsamen Projektes des literatur:vorarlberg netzwerks und der ‚Marie – Vorarlberger Straßenzeitung‘ veröffentlicht wurde. Sie möchten eine buchmarie erwerben? Wir freuen uns auf Ihr Mail: office@literatur.ist!