Datum
15.11.2019
Kategorie
Tagebuch
Schlagworte
Villa Iwan und Franziska Rosenthal_Kutscheineinfahrt
©Gerhard Klocker

Im Dunkel des Efeuschattens

Daniela Egger

Nein, es ist wieder nichts. Manchmal erzeugt das Holz der Bodenbretter oder Dachbalken eine Art rhythmisches Abfedern der Spannung – leicht zu verwechseln mit Schritten. Aber dann verstummt sie wieder, dieser Hauch einer Erinnerung an das Geräusch vergangener Füße. Sie verstummt ohne den abschließenden, satten Klang einer sich öffnenden Türe oder dem Seufzen eines Polstersessels und nimmt die vage Erinnerung gleich mit. Es ist wieder nichts, es herrscht Stille. So sagt man wohl, aber mir scheint Stille herrscht nicht, sie ist vielmehr einfach gegenwärtig. Sie ist in mir, das kann ich mit Sicherheit sagen. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, ich bin Stille. Ich bin, mit den Jahren, in die Stille hineingewachsen. Vielleicht verbreite ich sie sogar, wer weiß, über meine Grenzen hinaus und erschrecke damit die Passanten auf der Straße. Vielleicht wuchert meine Stille-Aura ein Stück weit in die Harrachgasse oder noch weiter, gar ein Stück die Marktgasse hinauf. Bestimmt wäre sie im Herbst mächtiger als im Sommer. Und sie hat mit Sicherheit an Kraft verloren, als man den Efeu aus der Fassade riss.

Der Efeu. Seine Haftwurzeln stecken in meiner Haut, in jeder noch so kleinen Ritze. Er lebt, das muss man nicht denken, dass er mit ein bisschen Sägen und Gift zu vernichten wäre. Diese Fassade ist sein Ort, er lebt und ist bereit, sich wieder auszubreiten. Ihm genügen ein leichter Sommerregen und etwas von der Hohenemser Sonne. Seine Kraft ist ungebrochen. Er bleibt nur deshalb unsichtbar, weil er es so will. Ein wenig wie ich auch. Wir ruhen uns aus, wir beide, der Efeu und ich, jeder auf seine Art vorübergehend zurückgezogen.

Schon wieder eine Säge. Das Geräusch ist gedämpft, aber ich weiß wohl, in wessen Rinde sie diesmal dringt. Wir sind keine getrennten Wesen, das anzunehmen wäre eine Illusion. Sie wirft ihren Schatten schon zu lange auf mein Dach. Wenn die große Kastanie fällt, fällt ein Teil von mir. Jedes Mal ein weiteres, vielleicht unbedeutendes Teil unserer einstigen Schönheit.

Schönheit wird ebenso missverstanden wie die unsichtbare Verbindung, die zwischen allem herrscht. Fällt im Park ein Ast auf den längst überwucherten Kiesweg, reicht die Erschütterung seines Aufpralls zurück in die Zeit des hauseigenen Kutschers, der das Gehölz unverzüglich entsorgt hätte, bevor sich ein Pferdehuf darin verfängt. Der morsche Ast heute verrottet unbeachtet auf dem Gras, so wie der Ast vor seiner Zeit, als der Kutscher noch nicht geboren war, und doch schon angelegt in der Linie seiner Ahnen.

Die Fülle findet statt, auch in einem verwaisten Haus. Auch hinter vergilbten Fensterscheiben. Sie ist unabhängig von Küchenduft, Gelächter und Gesang. Selbst in die Lücken loser Mauersteine und Dachzargen dringt das Licht des Frühlingstages. Und später die wärmende Dunkelheit, in der sich die Gerüche und Geräusche intensivieren. Selbst in der Eiseskälte, die den Mauern die Feuchtigkeit nimmt, hört man das Trippeln kleinster Lebewesen.

Ahnen schätzen es, wenn sie hin und wieder erwähnt werden. Wirklich. Man sollte sie öfters ins Gespräch ziehen, ihren Namen nennen. Derjenige, dessen Name genannt wird, ist sofort zur Stelle – wenn auch meist unbemerkt von den Sprechenden. Man sollte das nicht vergessen.

Die Kastanie kämpft. Sie steht scheinbar unerschütterlich an ihrem Platz, sie atmet um den verletzten Narbenring herum. Wir alle hoffen. Wir alle wollen nicht auf sie verzichten. Sie dominiert den Park und sorgt für mächtigen Schutz, seit langer Zeit. Ihre Verletzung geht tief, tiefer als der sichtbare Schnitt, tiefer als die Absicht dahinter. Seit der großen Abreise, seit dem Ausbreiten des Efeuschattens, seit der um sich greifenden Dunkelheit, dringt diese längst vorhandene Verletzung in die Zimmerfluchten. Die Frauen finden sich im Garten ein und flüstern dem alten Baum zärtlich tröstende Worte zu.

Manchmal kommt jemand. Meistens nur kurz, nie alleine. Es wird gesprochen, aber anders, nicht privat. Es wird nie mehr gesungen, nicht gelacht. Es ist eine ernste Zeit im Haus.

Manchmal werden Dinge von einem Zimmer zum anderen getragen, Staub verwischt, Türen geöffnet. Es wird allmählich leichter, auch wenn unsichtbare Fäden reißen und Scherben liegen bleiben. Der Raum danach ist aufgewühlt, als wäre ein Sturm hindurch gefegt.

Habe ich erwähnt, dass Farbe eine Art Nahrung ist? Diejenigen, denen die Materie abhanden kam, messen den Farben eine große Bedeutung zu.

Die unsichtbaren Verbindungen, auf die ich immer wieder zu sprechen komme, sie sind ebenso bedeutungslos wie alles andere. Beispielsweise ein Planungsmodell, das seit neuestem im Esszimmer steht. Es weist in eine mögliche Zukunft, die längst vorhanden ist, wie auch der Ast auf dem Weg längst vergangen ist. Die Kastanie wird den Kampf gewinnen, der Gartenzaun wird eine neue Farbe tragen, die Kegelbahn wird neue Geräusche hervorbringen. Hinter dem Rauschen des Mahlwerks einer Kaffeemaschine rollt noch immer die schwere Kugel in die Dunkelheit der Holzbahn. Sichtbare Veränderungen werden überschätzt, auch wenn sie kurzzeitig unterhaltsam sind. —

Dieser Text stammt aus der ‚buchmarie‘, die 2019 im Rahmen eines gemeinsamen Projektes des literatur:vorarlberg netzwerks und der ‚Marie – Vorarlberger Straßenzeitung‘ veröffentlicht wurde. Sie möchten eine buchmarie erwerben? Wir freuen uns auf Ihr Mail: office@literatur.ist!