Seek&Read: Samuels Buch – Gesamte Geschichte
Eine Spukgeschichte für Fortgeschrittene. Nichts für schwache Nerven.
geschrieben von Irmgard Kramer. Illustration: Marek Bláha.
HINWEIS: ALTERSEMPFEHLUNG dieser Geschichte liegt bei 12 Jahren!
Herzlich willkommen bei Seek&Read – einer literarischen Schnitzeljagd durch Hohenems.
Schön, dass du uns gefunden hast. Du befindest dich auf einem kleinen Abenteuer, denn dieser Weg führt dich nicht nur durch eine schöne Landschaft, sondern auch durch eine spannende, an manchen Stellen vielleicht sogar gruselige Geschichte, geschrieben von Irmgard Kramer.
Du wirst auf diesem Weg insgesamt zehn QR-Codes finden, schau genau, denn manche sind versteckt. Solltest du zufällig über einen QR-Code gestolpert sein und du befindest dich inmitten der Geschichte, ist das kein Problem, denn hier beginnt das Abenteuer mit der Einführung und führt dich von der Villa Franziska und Iwan Rosenthal weiter in die Hohenemser Natur.
Viel Spaß bei Seek&Read,
Dein Literaturhaus Vorarlberg
Kurz vor meinem zwölften Geburtstag war ich zum ersten Mal in der Villa Franziska und Iwan Rosenthal. Das ist lange her. Was damals passiert ist, habe ich weder meiner Frau noch meinen zwei Kindern erzählt, aber jetzt, wo sich die Villa aus dem Schutt erhebt, und zu neuem Leben erwacht, kann ich nicht länger schweigen.
Allerdings muss ich dich warnen – was ich dir gleich erzähle, ist nichts für schwache Nerven. Wirklich nicht! Solltest du Angst im Dunkeln haben, weil du glaubst, ein Monster wohnt unter deinem Bett, oder solltest du zu heulen beginnen, weil deine Eltern weg sind und du dir einbildest, dass deine Babysitterin ein Zombie ist, dann empfehle ich dir dringend diese Lektüre wegzulegen. Auch wenn du schon einmal auf dem Klo gesessen bist und dir vorgestellt hast, wie eine glitschige Leichenhand aus dem Abfluss kommt und dich am Popo krault, solltest du jetzt lieber in dein Handy schauen. Dort ist es zwar auch gruselig, aber es besteht keine Gefahr, eine Überdosis an eigener Fantasie abzukriegen.
Es ist besser, wenn du meinen Namen nicht erfährst. Du kannst mich Storm nennen und dir vorstellen, dass ich ein Junge in deinem Alter bin und blau gefärbtes, zerzaustes Haar habe.
- In der Villa Franziska und Iwan Rosenthal
Unsere Volksschulzeit war gerade vorbei und die Mittelschule hatte noch nicht begonnen – es waren die Sommerferien dazwischen. Unsere Eltern arbeiteten viel. Handys gab es noch nicht und wir waren frei. Mit „wir“ meine ich meine besten Freunde: Pip, Jacke (wie Hose) und Fée. Bis in die dritte Klasse waren wir zu dritt gewesen: Pip, Jacke und ich. Pip war der Lustige, Jacke der Schlampige und ich der Verträumte. Fée war erst in der vierten Klasse zu uns gekommen. Zuvor hatte sie mit ihren Eltern in exotischen Ländern gelebt und viel von der Welt gesehen. Fée sprach wahnsinnig viele Sprachen. Sie hatte rotbraunes Haar, flussgrüne Augen und dreizehn Sommersprossen rund um die Nase. Fée war cool. Wir verknallten uns alle in sie. Jeder in unserer Klasse wollte mit ihr befreundet sein und ausgerechnet uns drei Chaoten wählte sie aus.
Es machte ihr Spaß, mit uns durchs Ried zu fahren, zu angeln und auf die Burgruine zu steigen. Am liebsten lag sie im Gras und sah den Wolken zu, wie sie sich aufplusterten und schrumpften und ihre Form veränderten. „Wenn ich groß bin, werde ich im Himmel arbeiten, so viel steht mal fest“, sagte sie. Fée fand es ein gutes Omen, dass es den Wolken bei uns am Himmel so gut gefiel. Wo sie zuvor gelebt hatte, hatten es die Wolken eilig gehabt, möglichst schnell weiterzufliegen. Pip wollte ihr erklären, dass das kein Omen war, sondern etwas mit dem Wind und den Bergen zu tun hatte, aber ich haute ihm rechtzeitig eine rein und er hielt die Klappe.
An jenem Tag, als wir dem Jungen zum ersten Mal begegneten, kam zuerst kühler Wind auf. Wie begannen zu frösteln. Etwas lag in der Luft. Und plötzlich saß er unter der Weide, kaute einen Grashalm und schaute uns beim Schwimmen zu. Wir hatten ihn nicht kommen hören. Der Junge war zwei oder drei Jahre älter als wir. Mir fiel auf, wie dünn und blass er war, richtig bleich war er, so als wäre er lange krank gewesen oder als wäre er in zu kurzer Zeit zu schnell gewachsen. Eine zerlumpte Hose schlackerte um seine Knochen. Er war barfuß und sein dünnes, ausgebleichtes Haar sah aus, als hätte er mit einer stumpfen Schere selbst daran herumgesäbelt. Seine Augen waren wie schwarze Knöpfe. Die ganze Zeit glotzte er uns an. Irgendwie tat er mir leid, aber dann auch wieder nicht.
Kurz nachdem er aufgetaucht war, veränderte sich das Licht. Die Weide fing an, um sich zu schlagen. Der Junge trollte sich davon, die Hände tief in den Taschen, den Kopf vornüber baumelnd. Dunkelgraue Wolken rauschten von allen Seiten an, sie krochen hinter der Hohen Kugel und dem Breitenberg hervor, näherten sich vom Bodensee und von den Schweizer Bergen. Aber dann war es das ungewöhnliche Schwefelgelb über der Burgruine, das uns wirklich Angst einjagte. Der Wind holte tief Luft, die Atmosphäre begann zu knistern und wir rafften panisch unsere Sachen zusammen. Schnell, schnell, schnell. Zum Anziehen blieb keine Zeit. In Badehosen sprangen wir auf unsere Räder und traten in die Pedale. Fée radelte voraus. Wir hinterher. Die ersten Tropfen klatschten schwer auf uns herab. Es begann zu schütten. Durch den Regenschleier sahen wir den Jungen am Straßenrand stehen. Mit einer Handbewegung gab er uns zu verstehen, dass wir ihm folgen sollten. Er lotste uns über Schleichwege in den Park der gruseligen Villa Franziska und Iwan Rosenthal. Wie ein abgewracktes Schiff duckte sich das Gemäuer hinter mächtige Bäume. Donner grollte. Ein Blitz zerriss den Himmel. Der Junge huschte durch die Hintertür in die Villa und aus den schweren Tropfen wurden Hagelkörner. Wir sprangen von den Rädern und rannten ihm schreiend hinterher. Im selben Moment schlug mit vollem Karacho und Donnerschlag ein Blitz neben der Villa ein.
Erst hinterher wurde uns klar, dass er uns womöglich das Leben gerettet hatte.
Drinnen hatte ich das Gefühl gegen eine schwarze Wand zu prallen. Jäh blieben wir stehen und atmeten um die Wette. Es roch nach Moder und finsteren Geheimnissen. Wir standen eng zusammen, die Köpfe eingezogen und schlotterten, während Hagelkörner wie Gewehrkugeln auf das kaputte Dach schlugen. Irgendwo plätscherte Wasser herein.
„Wo ist er hin?“, fragte Pip.
Jacke zeigte zur gegenüberliegenden Wand. Sein Finger zitterte. Ein schwacher Lichtschein hinter einer Tür. Wir bahnten uns einen Weg durch Bauschutt.
„Passt auf, hier stehen Nägel raus“, warnte Pip. Fée blieb trotzdem mit ihren Flipflops an einem losen Dielenbrett hängen. Sie hielt sich an meinem Ellbogen fest. Ihre Hand in meiner Armbeuge. Ihr schneller Atem auf meinem Hals. Sie duftete nach frisch geschnittenem Gras, Sonnenmilch und Himbeereis. Es war nur ein Moment, aber ich nahm ihn so intensiv wahr, dass er sich auf ewig in mein Gedächtnis brannte. Es krachte unterm Gebälk. Wir schlichen weiter durch ein düsteres Treppenhaus. Über uns war ein riesiges Glasfenster. Die Frauenfigur darin sah aus, als würde sie sich bewegen, vielleicht lag das aber nur am Wasser, das außen über die Scheiben plätscherte.
„Der ist doch hier rein“, murmelte Pip, kniete sich vor ein Schlüsselloch und spähte durch. Fée griff sich in die Haare, löste die Spange und stocherte damit im Schlüsselloch. Es machte Klack und die Tür öffnete sich. Der Schatten des Jungen huschte durch ein Spielzimmer, in dem es stark nach altem Tabak roch. Wir entdeckten eine geheime Tapetentür und drückten sie auf. Du heiliger Bimbam. Was für ein Saustall. Gegenseitig halfen wir uns über Gerümpel. Eine Spinnwebe klebte sich auf mein Gesicht. Ich wischte sie weg und sah erst jetzt, wie baufällig das Gemäuer wirklich war. Die Tapete hing in Fetzen von Wänden. Der Teppich war von Ratten zerfressen. Eine weitere Tür hing schräg in den Angeln. Schimmel kroch schwarz und pelzig über die Ecken. Ein neuer Donner ließ das Haus zittern, Blitze zuckten durchs Zimmer, als stünde vor jedem Fenster eine Horde Fotografen, die wie verrückt knipsten. Von irgendwoher kam schwaches Licht und erhellte einen Ziegelhaufen unter einem Regal. Wir wurden davon angezogen, knieten uns in den Staub und zogen ein zerfleddertes Buch aus dem Schutt. Uralt. Fées Augen weiteten sich. Dann zuckte sie zusammen, warf das Buch wieder in den Schutthaufen, bekreuzigte sich und hauchte: „Rednele, brits.“
Als sie merkte, dass wir sie anstarrten, zuckte sie die Achseln.
„Das ist rückwärts und heißt Stirb, Elender! Hilft gegen Flüche. Dieses Buch ist nämlich verflucht.“
Wir glaubten ihr.
Wir glaubten ihr alles.
„Rednele, brits“, murmelten wir und bekreuzigten uns wie Ministranten, während wir auf das Buch starrten, als sei es ein giftiges Tier, von dem man nicht wusste, ob es noch lebte und demnächst seine Tentakel ausfuhr, um uns die Augen auszustechen, oder ob es schon tot war.
Draußen wurde der Hagel weniger. Bald hörte ich nur noch mein wild hämmerndes Herz. Das Gewitter ließ von uns ab und zog weiter. Die Regentropfen auf dem Fenstersims klangen wie die klopfenden Finger eines Skeletts.
„Was steht denn auf dem Cover?“ Pip zeigte mit ausgestrecktem Finger auf das verfluchte Buch.
„Den Titel konnte ich nicht lesen, aber in der linken oberen Ecke ist ein Palindrom.“ Fée wickelte sich eine Strähne ihres langen Haares um den Zeigefinger.
„Äh … und was genau ist ein Palindrom?“, fragte ich.
„Otto, Reittier, Anna, Hannah – Wörter, die man von hinten und vorne lesen kann, Otto, Reittier und Anna sind total banale Wörter, aber es gibt Palindrome, die sind alles andere als banal, die sind gefährlich, die gehen nämlich nicht nur vorwärts und rückwärts, die gehen auch kreuz und quer. Wie das Quadrat auf der Ecke dieses Buches. Es ist ein SATOR-Quadrat. Das berühmteste Palindrom, das es gibt. Und das Mächtigste. Die oberste Liga der Hexerei.“ Ihre flussgrünen Augen blitzten. „Wobei … da fällt mir ein …“
Wir fuhren zusammen, als sie nach dem Buch griff.
„Bist du verrückt?“, rief Jacke.
„Ne, mir ist gerade eingefallen, dass Rednele, brits bei allen Flüchen funktioniert, nur nicht gegen das SATOR-Quadrat. Dagegen hilft gar nichts. Es ist ein unabwendbarer Zauber, irreversible Magie! Wir sind also schon verflucht, keine Chance mehr, sorry guys.“ Sie wischte über den Buchumschlag. Es kam eine Schrift in Form von Blutstropfen zum Vorschein. „Burg des Grauens“, las Fée vor. „Spukgeschichten für Fortgeschrittene. WARNUNG: Nur für starke Nerven. Nicht für Kinder geeignet. Von Samuel Paradies.“ Fée blätterte es auf. Ich blickte über ihren gebräunten Unterarm. Wenn mich nicht alles täuschte, waren die vergilbten Seiten im Buch … leer.
„Sofort loslassen!“, erschallte eine brüchige Stimme. Der blasse Junge kam näher, riss Fée das Buch aus der Hand, betrachtete es wie einen wieder gefundenen Freund und klemmte es sich unter den Arm.
„Darf ich nicht noch mal reinschauen?“, fragte Fée und lächelte ihn an. Sie war eine Meisterin im Flirten und ich sah, dass der Junge auch nicht immun gegen ihre Verführungskunst war.
„Kannst du nicht lesen? Das ist nicht für Kinder“, schnauzte er, nicht mehr ganz so aggressiv wie zuletzt. Er zeigte ihr die kalte Schulter, was Fée erst recht anstachelte. Sie warf sich das Haar in den Nacken und stemmte die Hände in die Hüften. „Wir sind also Kinder, ja? Bis wann ist man denn deiner Meinung nach ein Kind? Hat das was mit der Körpergröße zu tun? Oder gibt’s da einen Stichtag, oder was? Schau mich an! Glaubst du im Ernst, dass ich mich vor einer bescheuerten Spukgeschichte fürchte? Mir können Geschichten nicht gruselig genug sein. Und verflucht bin ich ohnehin schon.“
Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob das Buch tatsächlich leer war. Wahrscheinlich hatte ich mich verschaut. Hätte sie es sonst so unbedingt haben wollen? Hätte er es sonst so fest an sich gepresst? Sein Blick flackerte. Offensichtlich brachte ihn Fée aus dem Konzept. Er runzelte die Stirn und musterte sie. Seine Gesichtszüge wurden weicher.
„Du willst das wirklich lesen?“, fragte er verunsichert.
„Ja.“
„Beweise es. Beweise, dass du dich traust.“
„Beweisen?“ Fée lachte. „Wie denn?“
„Sie ist echt mutig!“, beteuerte Pip, worauf Jacke und ich zustimmend nickten.
Während der Junge nachdachte, spazierte er vor uns hin und her. Glas knirschte unter seinen nackten Fußsohlen, was ihm nichts auszumachen schien. Dann blieb er stehen und durchdrang Fée mit seinem stechenden Blick.
„Ich schenke dir das Buch, wenn du dich traust, eine Neumondnacht lang auf der Burgruine zu verbringen. Die nächste Neumondnacht wäre … übermorgen. Ich warte kurz vor Sonnenuntergang am Spielplatz auf dich. Überleg dir´s gut. Ich habe kein Problem, wenn du nicht kommst, aber ich habe ein Problem, wenn du schreiend nach Hause rennst, einen Schock fürs Leben kriegst und mir dafür die Schuld gibst.“
2. Am Spielplatz
Natürlich nahm Fée die Herausforderung an. Und natürlich ließen wir sie nicht allein gehen. Der seltsame Junge brauchte doch nur einen Vorwand, um Fée in den Wald zu locken, damit er dann, weiß der Geier was, alles mit ihr anstellen konnte. Aber er hatte die Rechnung ohne uns gemacht.
Zuhause erzählten wir, dass uns Fée auf eine Gartenparty mit Übernachtung in ihr Feenreich eingeladen hatte, und weil ihre Eltern stinkreich und exotisch waren, trauten sich unsere Eltern nicht dort anzurufen. So zogen wir also mit Schlafsäcken bepackt los zum Spielplatz. Pip hatte Spielkarten mitgebracht, Jacke jede Menge Proviant. Fée turnte auf dem Klettergestell der Schaukel. Ich hängte mich verkehrt neben sie. Wir schauten zu, wie die Sonne hinter den Häusern verschwand und der Himmel die Farbe von Pfirsichen bekam.
„Ich glaube nicht, dass der Typ kommt“, sagte Jacke, riss eine Packung Prinzenrolle auf und steckte mir einen Keks in den Mund. Fée fand es spektakulär, dass man kopfüber hängen und aufwärts schlucken konnte. Sie ließ sich ebenfalls hängen. Dabei rutschte ihr das T-Shirt über Bauchnabel, Kinn und Nase. Wie Fledermäuse hingen wir an dem Balken, ließen uns von Jacke füttern und schluckten „nach oben“. Dann kam Pip auf die bescheuerte Idee, in unseren Bauchnabeln herumzubohren, bis wir nicht mehr konnten und lachend vom Balken plumpsten. Wir kletterten die Rutschbahn von allen Seiten hoch und führten uns auch sonst ziemlich dämlich auf. Als uns langweilig wurde, trollten wir uns auf den Friedhof und machten uns einen Spaß daraus, Namen auf Grabsteinen zu lesen: Mina Mathis, Rupert Nachbauer, Luise Nachbauer.
„Hier werde ich auch einmal verrotten“, sagte Pip feierlich, faltete die Hände und machte ein heiliges Gesicht.
„Ich nicht“, sagte Fée. „Ich lass mich verbrennen.“
„Bist du verrückt?“, rief Jacke. „Das ist doch voll heiß.“ Er konnte manchmal wirklich kindisch sein. Danach wollten wir herausfinden, wie viele tote Jäger hier lagen, aber in dem Augenblick, als die Nacht den Tag verschluckte, saß plötzlich Samuel auf einem Grabstein, baumelte mit seinen dreckigen Füßen und grinste uns an. Wo war der so schnell hergekommen? Das verfluchte Buch hielt er fest.
„Wir sind bereit, eine Nacht auf der Burgruine zu verbringen“, sagte Fée. „Aber dann kriegen wir das Buch. Deal?“
„Deal!“, sagte Samuel, sprang vom Grab, drehte uns den Rücken zu und machte sich mit großen Schritten davon. „Ich warte am Parkplatz hinter dem Palast auf euch.“
Bis wir unsere Sachen zusammengekramt hatten, war er schon weg. Schnell wurde es dunkel über Hohenems. Kein Mond war am Himmel zu sehen und der Verkehr verstummte. Aus dem Wald rief ein Kauz und wir waren – noch – guter Dinge.
3. Am Parkplatz hinter dem Palast
Der Junge lehnte an der Regenrinne und betrachtete seine Fingernägel. Ich fragte mich erneut, wie man es fertigbrachte, im Hochsommer so blass zu bleiben. Eine Kälte ging von ihm aus, oder es war nur der Wald auf dem steilen Felsen, der tagsüber lange Schatten hinter den Palast geworfen hatte. Wir zogen unsere Pullover an.
„Keks?“, fragte Jacke und hielt dem Jungen mit großem Abstand die zerbröselten Reste der Packung entgegen.
„Sehr freundlich, aber, nein danke“, sagte er. „Dort im Wald beginnt der Weg. Letzte Gelegenheit umzudrehen.“ Ich hatte kein gutes Gefühl. Die Vorstellung mit diesem verschlagenen Kerl durch den finsteren Wald zu spazieren, fand ich alles andere als prickelnd. Der spielte doch nur mit uns, weil er sich für so erwachsen hielt. Womöglich warteten im Wald seine Kumpel, um uns Angst einzujagen und um Fée zu kriegen. Jacke stopfte sich einen Keks nach dem anderen in den Mund und Pip jonglierte mit Steinen, was er immer tat, wenn er unsicher war. Nur Fée brachte nichts aus der Ruhe.
„Na dann. Rauf auf die Burg. Ich kann´s kaum erwarten. Rednele, brits!“ Noch einmal bekreuzigte sie sich und wir taten es ihr nach.
„Rednele, brits.“
Der Junge ging voraus. Die Dunkelheit verschlang ihn und wir hörten ihn nur noch sagen: „Ich warte bei der ersten Bank.“ Ich vergewisserte mich, dass das Taschenmesser in meiner Hosentasche war. Hätte ich auf meinen Bauch gehört, hätte ich spätestens an dieser Stelle umdrehen sollen. Ich hätte mir viele Albträume erspart. Und dies ist auch für dich die letzte Gelegenheit, mit dem Lesen aufzuhören.
4. Die erste Bank auf dem Weg zur Ruine
Wir zückten unsere Taschenlampen, gingen bergauf und machten Lärm wie eine ganze Schulklasse. Ich hasste es prinzipiell aufwärtszugehen, diesmal besonders, weil wir eine Menge Zeug zu schleppen hatten – die Schlafsäcke, den Proviant und das alles, aber keiner von uns traute sich vor Fée zu jammern, also tappten wir wie die Lämmer hinter ihr her und scherzten herum, laut und übermütig, weil wir nicht zugeben wollten, dass es schon ein wenig unheimlich war. Der Wald verwandelte sich in ein lebendiges Wesen, wispernd und atmend, schnaufend und knackend. Schatten krochen auf uns zu und griffen nach uns. Um unsere Füße kreuchte und fleuchte es. Bäume schlugen ihre Äste über unseren Köpfen zusammen. Kies knirschte. „Huu-hu-huhuhuhuu“, machte ein Kauz. Auf einmal begann es zu stinken. Pip meinte, es sei Kotze oder ein verwesender Iltis. Jacke tippte auf Leiche oder Mumie. Ich fand, es stank eher nach … fauligen Pilzen. Richtig ekelhaft. Ein Gestank, bei dem sich einem der Magen umstülpte, noch ehe man wusste, was es war.
„Was ist denn jetzt los?“ Pip schüttelte seine Taschenlampe. „Ich habe doch extra neue Batterien reingegeben.“ Auch bei meiner wurde das Licht mit jedem Schritt schwächer. In der nächsten Kurve gaben alle vier Lampen den Geist auf. Gleichzeitig.
„Scheiße.“ Ich hob die Hand vor meine Augen und sah nichts. Nada. Ende Gelände. Aus die Maus. Es war so dunkel, als hätte uns jemand in einen Sack aus schwarzem Samt gesteckt, ihn zugeschnürt und uns in einen Brunnen geworfen.
„Vielleicht ein elektrisches Feld“, vermutete Fée. „Boah, und wie das hier stinkt.“ Wir hielten uns die Ärmel vor die Nasen und würgten vor uns hin. Fée war rechts von mir. Ich ertastete ihren Arm. Links stand noch jemand mit rasselndem Atem. „Pip, bist du das?“, hörte ich mich japsen.
„Nein, ich bin hier!“, würgte es zu meinen Füßen.
„Dann bist das du, Jacke?“, fragte ich und musste schlucken.
„Ich bin hier“, hörte ich ihn sagen und erkannte, dass er schon etliche Meter vorausgegangen war. Mir gefror das Blut in den Adern.
Wer … oder was stand dann neben mir? Das Wesen keuchte wie ein Lungenkranker aus dem letzten Loch. Meine Hand zitterte, als ich etwas ertastete … eine Schulter … eine feuchte Schulter, wie von einem Menschen, aber … von Pilzen überwuchert. Noch nie hatte ich mich so geekelt. Ein Schrei kam aus der Tiefe meiner Brust. Ich hatte nicht gewusst, dass ich fähig war, so schrecklich zu schreien. Mein Herz wollte mir aus der Brust springen. Fühlte sich so ein Herzinfarkt an? Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, aber irgendwie rettete ich mich zur zweiten Bank, ohne zu sterben.
5. Die zweite Bank auf dem Weg zur Ruine
Wir brauchten eine ganze Weile, bis wir uns von dem Schrecken und dem Gestank erholt hatten und uns darauf einigten, dass die menschenähnliche Pilzschulter nur ein Baum gewesen sein konnte.
„Für alles gibt es eine logische Erklärung“, sagte Jacke.
„Ein verfluchtes Buch ist die beste logische Erklärung“, sagte Fée, grinste uns an, riss eine Coladose auf, nahm einen Schluck und teilte mit uns. Meine Eltern erlaubten mir nicht, Cola zu trinken. Schon gar nicht in der Nacht. Die hatten ja keine Ahnung, wie gut das Gesöff gegen Angst half. Jacke fütterte uns mit Gummibärchen und Salzstängeln und nachdem wir eine Runde um die Wette gerülpst hatten, ging es uns ein wenig besser, auch wenn es uns nicht gerade beruhigte, dass zu unseren Füßen, weiß der Geier was für Viecher herumkrochen.
„Gibt´s hier eigentlich Schlangen?“, fragte Pip, der seine Füße sicherheitshalber auf die Bank stellte und seine Knie umarmte.
„Blindschleichen auf jeden Fall“, sagte Fée, „und jede Menge Spinnen natürlich – Vogelspinnen, Taranteln, Schwarze Witwen, Trichterspinnen, Tellerspinnen, Winkelspi…”
„Hör auf!“ Pip puffte sie in die Seite und sie kicherte.
Unsere Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, aus der sich Stämme, Blätter, Äste und Wurzeln schälten. Wir beschlossen weiterzugehen.
„Täusche ich mich, oder hat hier gerade jemand geraucht?“, fragte Jacke. „Der Typ mit dem verfluchten Buch vielleicht“, sagte Pip, „so ungesund wie der aussieht. Wo ist der überhaupt?“
„Der verarscht uns doch. Hab ich mir gleich gedacht“, sagte ich. Fée schnupperte. „Ich finde eher, es stinkt weniger nach Zigaretten als irgendwie … verkohlt.“
„Grillfeuer“, sagte Jacke. Links im Wald unter uns plätscherte es.
„Habt ihr gewusst, dass es da einen Bach gibt?“, fragte Pip.
„Das ist kein Bach…“, murmelte Jacke. Mit offenen Mündern beobachteten wir, wie aus dem Gebüsch eine helle Haube auftauchte, die das runde Gesicht einer Frau mit Löckchen umrahmte. Ihr Mund war dunkel verschmiert. Sie trug eine Kochschürze, mit der sie sich schnell über den Mund wischte und schluckte. Hatte sie Beeren gegessen? Sie war so enorm dick, dass ich mir auf die Zunge beißen musste, um keine fiese Bemerkung vom Stapel zu lassen.
„Was macht‘n die?“, flüsterte Pip.
„Waldbeeren suchen“, sagte ich.
„Pinkeln“, sagte Jacke und prustete los, worauf sie ihm einen finsteren Blick zuwarf und ihre Röcke raffte. Neben ihr fiepte etwas, das durchs Gestrüpp davonwieselte. Sie trampelte Äste nieder und trat schnaufend wie ein Walross neben uns auf den Weg.
„Auch unterwegs zur Hexenverbrennung?“, fragte sie.
Sie schnupperte, als vermutete sie die Flammen hinter den Baumwipfeln. „Ich kann den Scheiterhaufen schon riechen“, sagte sie voller Vorfreude. Mir rieselte ein Schauer über den Rücken. Tatsächlich nahm der Brandgeruch zu und ich begann mir Sorgen zu machen – vielleicht hatte der Junge eine brennende Zigarette weggeworfen und damit den trockenen Wald in Brand gesteckt.
Die Köchin schnaufte neben uns her. Wir ließen uns auf die nächste Bank fallen und sie quetschte ihren Hintern zwischen mich und Fée. Jacke bot ihr Gummibärchen an, aber sie lehnte ab.
„Haben Sie einen Jugendlichen gesehen? So ein dünner Typ, dunkles Haar?“, fragte Pip.
„Samuel Paradies? Nein. Und er soll es ja nicht wagen, sich auf der Burg oben blicken zu lassen. Der Bastard hat mir den ganzen Mist eingebrockt. Ich muss los, das Feuer füttern.“
Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen und fragte mich, ob sie zum Theaterverein oder zur Faschingszunft gehörte oder nur ganz normal plemplem war. Sie war schon halb aufgestanden, als sie sich plötzlich über mich beugte und mir sehr nah kam, viel zu nah. „Du riechst, sehr … appetitlich, mein Junge“, hauchte sie mir ins Gesicht und ich bekam eine volle Ladung grässlichen Mundgeruchs ab. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, spürte nur noch, wie sie mit ihren eisigen Klauen, die sich wie Rasierklingen anfühlten, über meinen Hals strich und zu schmatzen begann. Mit einem wölfischen Lächeln grinste sie mich an und zeigte mir zwei säbelscharfe Reißzähne. Aus ihren Mundwinkeln triefte Sabber und mir wurde schlagartig bewusst, dass sie keine Beeren, sondern etwas ganz anderes gegessen hatte. Das Lachen war mir längst vergangen.
„Dein Glück, dass ich schon satt bin“, grinste sie und zeigte mir noch einmal ihre Vampirzähne. Sie schlurfte den Weg hinauf. Mit ihr verschwand auch der Brandgeruch. Erst als wir sie nicht mehr sahen, konnte ich wieder halbwegs klar denken.
„Alter Schwede“, stöhnte Jacke neben mir.
„Denk dir einfach, es waren Theaterzähne, ja?“, sagte Fée und tätschelte meinen Arm, um mich aufzumuntern. Theaterzähne. Nur Theaterzähne. Irgendwie schaffte ich es auf die Beine zu kommen. Wir gingen weiter bis zur nächsten Bank.
6. Die dritte Bank auf dem Weg zur Ruine
„Pssst!“ Jacke packte mich am Arm. Wir blieben stehen. Jemand summte eine fröhliche Melodie. Ein Mädchen hüpfte um die Kurve auf uns zu und vergewisserte sich, dass ihre große Schleife richtig auf dem Kopf saß. Sie trug ein mitternachtsblaues Kleidchen und Glitzerschuhe. Leichtfüßig sprang sie über Steine und Wurzeln.
„Hallo“, sagte sie, als sie an uns vorbeisprang.
„Hallo!“ Fée war die Einzige von uns, die den Mund aufbrachte, während ich nur einen erdigen, hässlichen Fleck im Gesicht des Mädchens wahrnahm. Wahrscheinlich war es nur so ein pelziges Muttermahl. Trotzdem stellte ich mir vor, dass darunter eine Spinne oder sonst etwas brütete und grauste mich zu Tode. Die Schritte und der Gesang des Mädchens verstummten.
„Schaut mal.“ Pip zeigte durch den Wald nach oben. Ein dünner Schwaden kräuselte sich aus einer Ritze und verhielt sich wie ein schwebender Wurm, der etwas suchte. Erst schlängelte er sich um einen Baumstamm, dann entdeckte er uns, schwebte zu uns herab und schlang sich um unsere Füße. Meine Zehen wurden sofort kalt. Und die Kälte stieg von innen durch meine Adern hoch bis in meine Brust. Es fiel mir schwer zu atmen.
„Was ist das?“, fragte Jacke.
„Eine tote Seele natürlich“, sagte Fée. „Eine etwas verwirrte tote Seele, die noch nicht weiß, wo sie hinmuss.“ Sie sah in unsere Gesichter. „Oh, … ihr könnte natürlich auch denken, es sei Nebel. Nebel ist ganz normal, vor allem, wenn es nachts kühl wird im Wald, so wie hier.“
„Eine tote … Seele?“ Pip schaute auf unsere Füße, die wir nicht mehr sehen konnten, weil sie im Nebelmeer, das sich wie ein Teppich um uns gelegt hatte, verschwunden waren. Da hörten wir ein leises Ächzen. Es klang nicht, als hätte jemand Schmerzen – o nein! Es war das Grauen! Beinahe gleichzeitig ertönte ein leises, schnelles Geräusch. Ein Geräusch so regelmäßig wie das Ticken einer Uhr, die man in einen Wollpullover gewickelt hatte. Padumm. Padumm. Padumm. Es war ein Herz, das da schlug. Eindeutig. Aber keiner wagte das auszusprechen. Nicht einmal Fée. Wir blieben still, lauschten wie hypnotisiert und beobachteten den Nebel, der langsam zu unseren Knien hochkroch. Bald würde er uns verschlingen. Dann waren wir gefangen in der Unterwelt, in der die Herzen toter, verirrter Seelen schlugen. Oh Mann. Wir waren solche Idioten, dass wir uns auf dieses Abenteuer eingelassen hatten.
„Es kommt von dort!“, sagte Fée, hob einen Fuß aus dem Nebel und stieg die Böschung hinauf.
„Du willst doch nicht etwa … den Weg verlassen?“, würgte ich hervor.
„Aber hörst du`s nicht? Da ist eine Seele in Not. Wir müssen sie befreien.“
„Diese Frau treibt einen in den Wahnsinn“, stöhnte mir Pip ins Ohr und zog mich weiter, Fée hinterher, während ich nach Jackes Arm griff und ihn hinter uns her schleifte. Brombeeren hakten sich in unsere Haut. Brennnesseln verbrannten uns die Finger. Und das vergrabene Herz schlug immer schneller und lauter, je näher wir kamen. Padumm. Padumm. Padumm. Es drang in mich ein. Ich dachte, das Herz müsse zerspringen, so wie mein eigenes. Mir war schwindlig, die Orientierung hatte ich längst verloren, ich hielt mich nur noch an Fée und war froh, meine Freunde neben mir zu haben. Wir stiegen über einen glitschigen Baumstamm. Padumm. Padumm. Padumm. Dort war es. Dicht vor uns. Wind rauschte durch die Blätter. Er blies den Nebel weg. Der Waldboden wurde sichtbar. Wir sahen die frisch umgegrabene Erde und auf einmal wusste ich, dass der braune Fleck im Gesicht des Mädchens kein Muttermahl gewesen war, sondern tatsächlich „nur“ Erde. Sie hatte hier gegraben. Gänsehaut kroch mir über den Nacken. Dieses Mädchen hatte einen Toten vergraben? Mich schauderte.
„Du willst doch nicht …“
Aber da war Fée schon auf die Knie gesunken und hatte damit begonnen, mit beiden Händen die Erde wegzuschaufeln. Ich hielt den Atem an und beide Hände vor meine Augen. Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen und ich wusste nicht, wie ich den Anblick verkraften würde, vor allem weil die Leiche möglicherweise schon seit Wochen in der Erde verweste. Zwischen meinen Fingern durch erhaschte ich blondes Haar, das Fée aus der Erde zog. „Oh mein Gott!“ Pip presste sein Gesicht auf meine Schulter, damit er nicht hinsehen musste. Plötzlich verstummte der Herzschlag.
„Ist es sehr schlimm?“, fragte Jacke gequält.
„Nein, gar nicht.“ Täuschte ich mich oder schmunzelte Fée? Und weil keiner schrie, wagte ich es nun doch durch meine Finger zu äugen und fasste es nicht.
Fée hatte eine Barbiepuppe aus der Erde gezogen. Sie schüttelte die Erde ab. Darunter trug sie Glitzerschuhe und ein hübsches mitternachtsblaues Kleid, das so ähnlich aussah wie das des Mädchens. Fée wischte ihr das Gesicht ab. „Na, wer bist du denn, Hübsche?“ Sie zupfte ihr Erdkrümel aus dem grauen Haar und brachte die Schleife in Ordnung. „Hey!“ Fée lächelte uns an. „Sie beißt euch nicht.“ Sie reichte mir die Barbiepuppe. Mich schüttelte es, als würde sie mir ein achtbeiniges, haariges Insekt in die Hand drücken, aber schließlich überwand ich mich und nahm sie entgegen.
Eigentlich sah sie ganz normal aus. Erleichtert ließ ich meine Schultern sinken. Die Anspannung fiel von mir ab und ich atmete erlöst aus. Im selben Augenblick riss die Barbiepuppe Mund und Augen auf, fauchte mich an und kratzte mir mit der Hand ins Gesicht.
Ein stechender Schmerz fuhr durch meine Wange. Ich schleuderte sie von mir, krümmte mich jaulend am Boden und brüllte wie am Spieß. So weh tat es gar nicht, aber es tat gut, mir die Angst aus der Brust zu schreien.
„Ach, so eine ist das“, sagte Fée erzürnt. „Ein hinterlistiges Biest.“ Während Pip und Jacke um mich herumtummelten, stapfte Fée an uns vorbei, hob die Barbie des Grauens auf und verscharrte sie erneut in einem Erdloch. Wieder ertönte ganz leise ein klopfendes, kleines Herz.
„Hilf mir mal, Jacke.“
Zu zweit wuchteten sie einen mächtigen Stein auf das Grab. Und noch viele Steine drauf. Und das Herz verstummte. Endlich. Wir kämpften uns eine Schneise zurück auf den Weg.
„Da steckt was“, sagte Pip und zog einen auf einen dünnen Ast gespießten Zettel von einem Baumstamm. Wir beugten unsere Köpfe drüber und entzifferten: „Ich nehme an, ihr seid schon weinend nach Hause gerannt. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass ihr immer noch nicht aufgekreuzt seid“, stand da gekritzelt. „Ich warte schon seit einer Ewigkeit bei der nächsten Bank. Samuel.“ Der konnte uns mal. Mit einem Jetzt-erst-Recht-Gefühl stiefelten wir trotzig weiter. Dem würden wir schon zeigen, dass wir uns von einer Pilzmumie, einer verfressenen Vampirköchin und einer Horrorbarbie nicht unterkriegen ließen.
7. Die vierte Bank auf dem Weg zur Ruine
„Mist“, fluchte Jacke und zeigte ins Tal. Schritte näherten sich von unten.
„Vielleicht ist das zur Abwechslung nur jemand, der nachts auf die Ruine joggt“, sagte Pip halbherzig. „Meine Mutter macht das auch.“ Aus der Dunkelheit schälte sich ein Mann in Strumpfhosen, Stulpenstiefeln und einer Pluderjacke. Um seine Schulter trug er – erst dachte ich, es sei eine Ukulele, aber es war – eine Laute.
„Jetzt hab ich`s!“, flüsterte Jacke und schlug sich triumphierend mit der Hand in die Faust. „Der ist aus dem Palast. Da veranstalten sie doch diese Grillgelage, mit Schweinespießen, Riesenkoteletts, Rittern und Henkern.“ Das war die Lösung. Erleichtert fielen Pip und ich uns um den Hals. Er hatte recht. Genauso sah dieser arme Ritter aus. Plötzlich waren wir glänzender Laune.
„Kannst du auf dem Ding auch was spielen?“, fragte Jacke. Der Barde hängte sich das Instrument um und begann zu zupfen.
„Von Singen hat aber keiner was gesagt.“ Jacke schlug sich entsetzt die Hände vors Gesicht, als er zu säuseln begann: „Hört ihr Leute, hört den Klang aus fernen Zeiten …“
„Kannst du auch was von den Toten Hosen?“, fragte Pip – die Toten Hosen waren damals total in. Der Sänger hob eine Augenbraue. „Der Troubadour die Laute zupft, das Herz im Leibe hupft…“ Plötzlich brach seine Stimme. Er fing an zu gurgeln und riss die Augen auf, sie quollen förmlich aus seinem Gesicht. Ich hätte mich totgelacht, wenn seine zwei Augenkugeln aus seinem Schädel gesprungen wären. Hilfesuchend griff er nach unseren Händen. Er hustete, röchelte, keuchte. Ganz schön ekelhaft. Blut sprudelte aus seinem Mund. Dann kippte er wie ein Brett vornüber. In seinem Rücken steckte ein Beil und wir applaudierten. Damit konnte er auftreten. Eine bühnenreife Show. Auf einmal amüsierten wir uns prächtig und hatten riesigen Spaß an unserem nächtlichen Abenteuer, allerdings nur so lange, bis wir Samuel auf der Bank sitzen sahen.
Sein bleiches Gesicht erkannten wir sogar in der Dunkelheit und seine Augen waren wie schwarze Löcher. Schlagartig verging uns das Lachen und diesmal jagte er mir wirklich Angst ein. Eine Ahnung sagte mir, dass er kein Schauspieler war. Er war echt. Das gruselte mich mehr als Vampirzähne und ein Beil im Rücken. Wäre Fée nicht in meiner Nähe gewesen, wäre ich davongerannt und hätte vielleicht sogar geweint. Dieser Junge … er rührte etwas in mir an. Ich konnte spüren, dass er etwas Schreckliches erlebt hatte. Aber konnten wir ihm trauen? Würde er uns etwas tun? Würde er uns anschnauzen, weil wir gelacht hatten?
Aber stattdessen wartete er, bis wir bei ihm waren und sagte dann leise: „Ihr habt es bald geschafft. Nur noch eine Bank. Die ist neu gestrichen. Am besten ihr legt eure Schlafsäcke zur Feuerstelle. Dort seid ihr am sichersten. Ich pass auf, dass euch keiner etwas tut.“
Pip, Jacke und ich starrten ihn an.
„Und du?“, fragte Fée. „Wo schläfst du?“
„Schlafen?“ Er lächelte, aber es war kein frohes Lächeln. Dann stand er auf und ging lautlos weiter.
8. Die fünfte Bank, neu gestrichen, fast am Ziel, unter der Burg
Ob es die Traurigkeit des Jungen war oder die Gelassenheit von Fée, die uns ansteckte, oder ob wir nur müde wurden, weiß ich nicht, aber wir hörten auf zu blödeln. Fée war so voller Vertrauen. Sie fand in allem etwas Schönes. So langsam wagten wir es, uns von der Nacht und der Stille berühren zu lassen. Der Wald, durch den wir bei Tag schon so oft gegangen waren, war mir noch nie so lebendig vorgekommen. Die Buchen hatten Augen, die uns hinterherblickten. Moos bewachsene Baumstümpfe sahen aus wie bullige Zwerge, die sich aufrichteten und sich reckten. Ich hörte auf, mich dagegen zu wehren. Und staunte mit Fée. Ein breitschultriger Mann ging an uns vorbei. Unter Wurzelwerk kroch ein Wesen in einem dünnen Nachthemd hervor. Das Haar war nicht von den spinnenartigen Wurzeln zu unterscheiden. Durchsichtig tänzelte es um uns herum und schwebte in Richtung Burgruine. Aus einer Felsspalte stieg eine lange Frau mit silbergrauem Haar und einem bodenlangen Mantel. Der Wald war voller Gestalten, die zur Burg strömten. Und wir waren mitten unter ihnen.
„Ist das nicht fantastisch?“, rief Fée.
Als wir aus dem Wald traten, spannte sich der Himmel über uns auf, wie schwarzer Samt, auf dem eine Million Diamantsplitter ausgeleert worden waren. Nie hatten wir einen wundervolleren Nachthimmel gesehen. Samuel saß auf der neu gestrichenen Bank. Das Buch hielt er immer noch fest. Neugierig beobachtete er, wie wir unsere Schlafsäcke ausrollten und uns eng aneinanderlegten, so, dass wir die Schultern der anderen spürten.
„Dort, der große Bär.“ Fée zeigte auf ein Sternbild. „Der Helle ist der Nordstern.“ Fée kannte sich mit Sternen mindestens so gut aus wie mit Wolken. Ich bin mir sicher, dass die Sterne überall dorthin wollten, wo Fée war.
„Willst du dich nicht zu uns legen?“, fragte sie Samuel.
„Nein. Um Mitternacht werde ich auf der Ruine erwartet. Wir sehen uns, wenn die Sonne aufgeht.“
Das hätte er nicht sagen sollen.
Natürlich brachten wir kein Auge zu. Aus allen Richtungen strömten Gruselfiguren, Spukgestalten und Gespenster auf die Burgruine zu. Flüchtige Gestalten. Fantasien, Vorstellungen, Träume und Albträume. Ich weiß nicht, was es war, das diese zwielichtige Neumondnacht hervorbrachte. Das Gespenst eines Ritters fleuchte um die Ecke. Eine Mumie, die ihre Verbände hinter sich her schleifte, hinkte keuchend an uns vorbei. Ein Werwolf folgte ihr geduckt.
Dann kam niemand mehr.
Mitternacht.
9. Auf der Burgruine bei der Feuerstelle
Vom Rheintal herauf schlugen Kirchenglocken. Wir zählten mit. Nach dem zwölften Schlag erhob sich Fée aus dem Schlafsack.
„Oh Mann. Nicht das auch noch“, seufzte Jacke.
„Was denn? Glaubt ihr, ich lasse mir diese verfluchte, mitternächtliche Versammlung entgehen?“
Pip schlug sich die Hand auf den Kopf. „Die Frau hat vielleicht Nerven!“ Er verdrehte die Augen. Wir blickten einander an und wussten, dass wir jetzt nicht aufgeben konnten – keiner von uns wollte vor Fée als Feigling dastehen. Meine Knie zitterten, als wir die letzten steilen Meter hinauf zum Haupttor mit dem Wächterturm schlichen. Dort summte es wie in einem Bienenstock. Den Wohnturm mit den vermauerten Abortausgängen ließen wir links liegen. Wir kamen am Gefängnisturm mit den Schießscharten vorbei. Pips Finger, mit denen er sich an mir festkrallte, waren eiskalt. Wir duckten uns hinter einen Baum.
Einerseits überblickten wir das Rheintal bis zum See, andererseits schauten wir hinab zur Zisterne, wo sich die Geister versammelten. Wir erkannten das Pilzmonster, die Köchin mit den Vampirzähnen, den Minnesänger mit dem Beil im Rücken, Wurzelgestalten und Waldgeister, durchsichtige Menschenwesen. Von überallher schlurften sie. Aus Ritzen, Spalten und Schießscharten. Aus Mauern und Brunnen. Das Bienensummen kam aus ihren Mündern. Sie sprachen mit sich selbst. Unheimlich. Am unheimlichsten jedoch war, dass sich alle rund um den Jungen versammelten. Er war der Mittelpunkt. Sie schienen auf etwas zu warten. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet.
Neben dem Brunnen flackerte plötzlich ein Feuer auf. Ein durchsichtiges, weißes Feuer. Feuer wie Sternenlicht. Manche tanzten um das Feuer herum, andere gingen durch das Feuer hindurch. Der Junge schlug das verfluchte Buch aus der Villa auf. Die leeren Seiten erhellten sein Gesicht von unten. Wind kam auf, fegte über den Felsen herauf zur Ruine, fuhr uns durch die Haare und griff hinein in die weißen Flammen. Knisternd, rauschend, tosend, brausend entstand vor unseren Augen ein mächtiger Wirbel, der die Flammen und die Erscheinungen mit sich riss.
Mit dem aufgeschlagenen Buch stand der Junge im Auge des Sturm und konnte sich kaum auf den Beinen halten, während sich der weiße Wirbel in den Buchseiten verfing und mit all den Wesen zwischen die Seiten gesogen wurden und darin verschwand. Aus dem Sturm wurde ein Wind, ein Lüftchen, eine Brise. Aus dem Tosen wurde ein Säuseln, ein Winseln, ein Seufzen.
Stille.
Der Junge fiel vornüber auf die Knie und umarmte das Buch. Dann stand er auf und tauchte im Wald unter. Wir taumelten durch das Tor zurück zu unserem Platz.
Auf Fées Schlafsack lag das Buch. Fée schlug die erste Seite auf. „Für meine Freunde. Von Samuel Paradies. Lebt wohl“, las sie vor. Die Geschichten in dem Buch waren von Hand geschrieben. Wir gaben es reihum und lasen uns bis in die Morgengeschichten Spukgeschichten vor. Sie hatten Überschriften wie: Die blutdürstige Köchin. Die Puppe des Grauens. Der zerhackte Barde. Danach kamen jede Menge Geistergeschichten, die mehr oder weniger gruselig waren. Darüber schliefen wir wohl ein. Genau kann ich mich nicht mehr erinnern.
Als es dämmerte, stand Samuel noch einmal vor uns. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich über die Gipfel. Wir brauchten eine Weile, bis wir verstanden, was nicht stimmte: Samuel warf keinen Schatten. Er fing an zu lächeln. Dann hob er seine Hand und löste sich im Sonnenlicht auf. Wir packten unsere Sachen und gingen hinunter zum Schlossplatz. Keiner sagte ein Wort.
10. Am Schlossplatz
Am Schlossplatz trafen wir Pips Uroma.
„Mist“, murmelte Pip.
„Dass ich dich wieder einmal sehe“, sagte sie und tätschelte sein Gesicht. „Wo kommst du denn her, mein Lieber?“
„Von der Ruine.“ Pip war offenbar zu müde, um sich eine Ausrede einfallen zu lassen.
„Mitten in der Nacht?“ Die Augen von Pips Uroma wurden groß.
„Wir haben den Geistern beim Tanzen zugesehen“, sagte Fée und strahlte sie an. Pips Uroma begann zu grinsen. „Ach, so nennt man das heutzutage.“ Sie zwinkerte Pip zu.
„Du verrätst uns doch nicht?“, fragte er.
„Wo denkst du hin. Ich war auch einmal zum ersten Mal verliebt. Ist allerdings schon eine Weile her.“
Sie begleitete uns auf dem Weg zurück in die Villa Franziska und Iwan Rosenthal. „Sag mal, Uri, weißt du noch, wer hier gewohnt hat, als du noch klein warst?“, fragte Pip.
„Die Villa stand immer wieder leer“, sagte sie, „obwohl … in meiner Kindheit erzählte man sich, dass es dort drinnen spukte. Hin und wieder sah man ein Licht, das von Fenster zu Fenster gewandert ist. Manche Leute verbreiteten das Gerücht, dass sich darin ein kleiner elternloser Ausreißer versteckt habe. Ich habe ihn nie gesehen. Geschichten. Nichts als Geschichten. Die Menschen lieben Geschichten, je dramatischer, umso besser.“ Ihren Blick starr vor sich auf den Asphalt gerichtet, tappte sie einfach weiter und schien uns vergessen zu haben.
Am Ende der großen Ferien verließ uns Fée. Ihre Eltern hatten einen Job angenommen in einem Land, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte, irgendwas mit A – Kamtschatka, Samarkand oder Alabama. Fée hatte ihren Abschied nicht angekündigt. Es war Samuels Buch, das sie auf mein Bett gelegt hatte. Auf der ersten Seite stand: „Wenn ihr das lest, bin ich schon weg. Ich hasse Verabschiedungen. Macht´s gut. Ich werde den besten Sommer meines Lebens nie vergessen. Grüßt mir die Wolken. Eure Fée. P.s: Ich habe noch ein Kapitel mit unserer Geschichte hinzugefügt. Erschreckt also nicht, falls ihr in der nächsten Neumondnacht auf dem Weg zur Burg euch selbst oder meinem Geist begegnet.“
Pip, Jacke und ich wagten es nicht, das verfluchte Buch noch einmal aufzuschlagen. Wir trauten uns auch nicht, Fées Geschichte zu lesen. Keiner wollte das Buch behalten. Mit Herzklopfen brachten wir es zurück in die Villa und fanden ein Versteck, von dem wir hofften, dass es niemals gefunden werden würde.
Vielleicht steht es noch dort.
Irgendwo.