Seek&Read: Samuels Buch – Kapitel 1
Eine Spukgeschichte für Fortgeschrittene. Nichts für schwache Nerven.
geschrieben von Irmgard Kramer. Illustration: Marek Bláha.
HINWEIS: ALTERSEMPFEHLUNG dieser Geschichte liegt bei 12 Jahren!
Herzlich willkommen bei Seek&Read – einer literarischen Schnitzeljagd durch Hohenems.
Schön, dass du uns gefunden hast. Du befindest dich auf einem kleinen Abenteuer, denn dieser Weg führt dich nicht nur durch eine schöne Landschaft, sondern auch durch eine spannende, an manchen Stellen vielleicht sogar gruselige Geschichte, geschrieben von Irmgard Kramer.
Du wirst auf diesem Weg insgesamt zehn QR-Codes finden, schau genau, denn manche sind versteckt. Solltest du zufällig über einen QR-Code gestolpert sein und du befindest dich inmitten der Geschichte, ist das kein Problem, denn hier beginnt das Abenteuer mit der Einführung.
Viel Spaß bei Seek&Read,
Dein Literaturhaus Vorarlberg
und jetzt geht es weiter…
1. In der Villa Franziska und Iwan Rosenthal
Unsere Volksschulzeit war gerade vorbei und die Mittelschule hatte noch nicht begonnen – es waren die Sommerferien dazwischen. Unsere Eltern arbeiteten viel. Handys gab es noch nicht und wir waren frei. Mit „wir“ meine ich meine besten Freunde: Pip, Jacke (wie Hose) und Fée. Bis in die dritte Klasse waren wir zu dritt gewesen: Pip, Jacke und ich. Pip war der Lustige, Jacke der Schlampige und ich der Verträumte. Fée war erst in der vierten Klasse zu uns gekommen. Zuvor hatte sie mit ihren Eltern in exotischen Ländern gelebt und viel von der Welt gesehen. Fée sprach wahnsinnig viele Sprachen. Sie hatte rotbraunes Haar, flussgrüne Augen und dreizehn Sommersprossen rund um die Nase. Fée war cool. Wir verknallten uns alle in sie. Jeder in unserer Klasse wollte mit ihr befreundet sein und ausgerechnet uns drei Chaoten wählte sie aus.
Es machte ihr Spaß, mit uns durchs Ried zu fahren, zu angeln und auf die Burgruine zu steigen. Am liebsten lag sie im Gras und sah den Wolken zu, wie sie sich aufplusterten und schrumpften und ihre Form veränderten. „Wenn ich groß bin, werde ich im Himmel arbeiten, so viel steht mal fest“, sagte sie. Fée fand es ein gutes Omen, dass es den Wolken bei uns am Himmel so gut gefiel. Wo sie zuvor gelebt hatte, hatten es die Wolken eilig gehabt, möglichst schnell weiterzufliegen. Pip wollte ihr erklären, dass das kein Omen war, sondern etwas mit dem Wind und den Bergen zu tun hatte, aber ich haute ihm rechtzeitig eine rein und er hielt die Klappe.
An jenem Tag, als wir dem Jungen zum ersten Mal begegneten, kam zuerst kühler Wind auf. Wie begannen zu frösteln. Etwas lag in der Luft. Und plötzlich saß er unter der Weide, kaute einen Grashalm und schaute uns beim Schwimmen zu. Wir hatten ihn nicht kommen hören. Der Junge war zwei oder drei Jahre älter als wir. Mir fiel auf, wie dünn und blass er war, richtig bleich war er, so als wäre er lange krank gewesen oder als wäre er in zu kurzer Zeit zu schnell gewachsen. Eine zerlumpte Hose schlackerte um seine Knochen. Er war barfuß und sein dünnes, ausgebleichtes Haar sah aus, als hätte er mit einer stumpfen Schere selbst daran herumgesäbelt. Seine Augen waren wie schwarze Knöpfe. Die ganze Zeit glotzte er uns an. Irgendwie tat er mir leid, aber dann auch wieder nicht.
Kurz nachdem er aufgetaucht war, veränderte sich das Licht. Die Weide fing an, um sich zu schlagen. Der Junge trollte sich davon, die Hände tief in den Taschen, den Kopf vornüber baumelnd. Dunkelgraue Wolken rauschten von allen Seiten an, sie krochen hinter der Hohen Kugel und dem Breitenberg hervor, näherten sich vom Bodensee und von den Schweizer Bergen. Aber dann war es das ungewöhnliche Schwefelgelb über der Burgruine, das uns wirklich Angst einjagte. Der Wind holte tief Luft, die Atmosphäre begann zu knistern und wir rafften panisch unsere Sachen zusammen. Schnell, schnell, schnell. Zum Anziehen blieb keine Zeit. In Badehosen sprangen wir auf unsere Räder und traten in die Pedale. Fée radelte voraus. Wir hinterher. Die ersten Tropfen klatschten schwer auf uns herab. Es begann zu schütten. Durch den Regenschleier sahen wir den Jungen am Straßenrand stehen. Mit einer Handbewegung gab er uns zu verstehen, dass wir ihm folgen sollten. Er lotste uns über Schleichwege in den Park der gruseligen Villa Franziska und Iwan Rosenthal. Wie ein abgewracktes Schiff duckte sich das Gemäuer hinter mächtige Bäume. Donner grollte. Ein Blitz zerriss den Himmel. Der Junge huschte durch die Hintertür in die Villa und aus den schweren Tropfen wurden Hagelkörner. Wir sprangen von den Rädern und rannten ihm schreiend hinterher. Im selben Moment schlug mit vollem Karacho und Donnerschlag ein Blitz neben der Villa ein.
Erst hinterher wurde uns klar, dass er uns womöglich das Leben gerettet hatte.
Drinnen hatte ich das Gefühl gegen eine schwarze Wand zu prallen. Jäh blieben wir stehen und atmeten um die Wette. Es roch nach Moder und finsteren Geheimnissen. Wir standen eng zusammen, die Köpfe eingezogen und schlotterten, während Hagelkörner wie Gewehrkugeln auf das kaputte Dach schlugen. Irgendwo plätscherte Wasser herein.
„Wo ist er hin?“, fragte Pip.
Jacke zeigte zur gegenüberliegenden Wand. Sein Finger zitterte. Ein schwacher Lichtschein hinter einer Tür. Wir bahnten uns einen Weg durch Bauschutt.
„Passt auf, hier stehen Nägel raus“, warnte Pip. Fée blieb trotzdem mit ihren Flipflops an einem losen Dielenbrett hängen. Sie hielt sich an meinem Ellbogen fest. Ihre Hand in meiner Armbeuge. Ihr schneller Atem auf meinem Hals. Sie duftete nach frisch geschnittenem Gras, Sonnenmilch und Himbeereis. Es war nur ein Moment, aber ich nahm ihn so intensiv wahr, dass er sich auf ewig in mein Gedächtnis brannte. Es krachte unterm Gebälk. Wir schlichen weiter durch ein düsteres Treppenhaus. Über uns war ein riesiges Glasfenster. Die Frauenfigur darin sah aus, als würde sie sich bewegen, vielleicht lag das aber nur am Wasser, das außen über die Scheiben plätscherte.
„Der ist doch hier rein“, murmelte Pip, kniete sich vor ein Schlüsselloch und spähte durch. Fée griff sich in die Haare, löste die Spange und stocherte damit im Schlüsselloch. Es machte Klack und die Tür öffnete sich. Der Schatten des Jungen huschte durch ein Spielzimmer, in dem es stark nach altem Tabak roch. Wir entdeckten eine geheime Tapetentür und drückten sie auf. Du heiliger Bimbam. Was für ein Saustall. Gegenseitig halfen wir uns über Gerümpel. Eine Spinnwebe klebte sich auf mein Gesicht. Ich wischte sie weg und sah erst jetzt, wie baufällig das Gemäuer wirklich war. Die Tapete hing in Fetzen von Wänden. Der Teppich war von Ratten zerfressen. Eine weitere Tür hing schräg in den Angeln. Schimmel kroch schwarz und pelzig über die Ecken. Ein neuer Donner ließ das Haus zittern, Blitze zuckten durchs Zimmer, als stünde vor jedem Fenster eine Horde Fotografen, die wie verrückt knipsten. Von irgendwoher kam schwaches Licht und erhellte einen Ziegelhaufen unter einem Regal. Wir wurden davon angezogen, knieten uns in den Staub und zogen ein zerfleddertes Buch aus dem Schutt. Uralt. Fées Augen weiteten sich. Dann zuckte sie zusammen, warf das Buch wieder in den Schutthaufen, bekreuzigte sich und hauchte: „Rednele, brits.“
Als sie merkte, dass wir sie anstarrten, zuckte sie die Achseln.
„Das ist rückwärts und heißt Stirb, Elender! Hilft gegen Flüche. Dieses Buch ist nämlich verflucht.“
Wir glaubten ihr.
Wir glaubten ihr alles.
„Rednele, brits“, murmelten wir und bekreuzigten uns wie Ministranten, während wir auf das Buch starrten, als sei es ein giftiges Tier, von dem man nicht wusste, ob es noch lebte und demnächst seine Tentakel ausfuhr, um uns die Augen auszustechen, oder ob es schon tot war.
Draußen wurde der Hagel weniger. Bald hörte ich nur noch mein wild hämmerndes Herz. Das Gewitter ließ von uns ab und zog weiter. Die Regentropfen auf dem Fenstersims klangen wie die klopfenden Finger eines Skeletts.
„Was steht denn auf dem Cover?“ Pip zeigte mit ausgestrecktem Finger auf das verfluchte Buch.
„Den Titel konnte ich nicht lesen, aber in der linken oberen Ecke ist ein Palindrom.“ Fée wickelte sich eine Strähne ihres langen Haares um den Zeigefinger.
„Äh … und was genau ist ein Palindrom?“, fragte ich.
„Otto, Reittier, Anna, Hannah – Wörter, die man von hinten und vorne lesen kann, Otto, Reittier und Anna sind total banale Wörter, aber es gibt Palindrome, die sind alles andere als banal, die sind gefährlich, die gehen nämlich nicht nur vorwärts und rückwärts, die gehen auch kreuz und quer. Wie das Quadrat auf der Ecke dieses Buches. Es ist ein SATOR-Quadrat. Das berühmteste Palindrom, das es gibt. Und das Mächtigste. Die oberste Liga der Hexerei.“ Ihre flussgrünen Augen blitzten. „Wobei … da fällt mir ein …“
Wir fuhren zusammen, als sie nach dem Buch griff.
„Bist du verrückt?“, rief Jacke.
„Ne, mir ist gerade eingefallen, dass Rednele, brits bei allen Flüchen funktioniert, nur nicht gegen das SATOR-Quadrat. Dagegen hilft gar nichts. Es ist ein unabwendbarer Zauber, irreversible Magie! Wir sind also schon verflucht, keine Chance mehr, sorry guys.“ Sie wischte über den Buchumschlag. Es kam eine Schrift in Form von Blutstropfen zum Vorschein. „Burg des Grauens“, las Fée vor. „Spukgeschichten für Fortgeschrittene. WARNUNG: Nur für starke Nerven. Nicht für Kinder geeignet. Von Samuel Paradies.“ Fée blätterte es auf. Ich blickte über ihren gebräunten Unterarm. Wenn mich nicht alles täuschte, waren die vergilbten Seiten im Buch … leer.
„Sofort loslassen!“, erschallte eine brüchige Stimme. Der blasse Junge kam näher, riss Fée das Buch aus der Hand, betrachtete es wie einen wieder gefundenen Freund und klemmte es sich unter den Arm.
„Darf ich nicht noch mal reinschauen?“, fragte Fée und lächelte ihn an. Sie war eine Meisterin im Flirten und ich sah, dass der Junge auch nicht immun gegen ihre Verführungskunst war.
„Kannst du nicht lesen? Das ist nicht für Kinder“, schnauzte er, nicht mehr ganz so aggressiv wie zuletzt. Er zeigte ihr die kalte Schulter, was Fée erst recht anstachelte. Sie warf sich das Haar in den Nacken und stemmte die Hände in die Hüften. „Wir sind also Kinder, ja? Bis wann ist man denn deiner Meinung nach ein Kind? Hat das was mit der Körpergröße zu tun? Oder gibt’s da einen Stichtag, oder was? Schau mich an! Glaubst du im Ernst, dass ich mich vor einer bescheuerten Spukgeschichte fürchte? Mir können Geschichten nicht gruselig genug sein. Und verflucht bin ich ohnehin schon.“
Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob das Buch tatsächlich leer war. Wahrscheinlich hatte ich mich verschaut. Hätte sie es sonst so unbedingt haben wollen? Hätte er es sonst so fest an sich gepresst? Sein Blick flackerte. Offensichtlich brachte ihn Fée aus dem Konzept. Er runzelte die Stirn und musterte sie. Seine Gesichtszüge wurden weicher.
„Du willst das wirklich lesen?“, fragte er verunsichert.
„Ja.“
„Beweise es. Beweise, dass du dich traust.“
„Beweisen?“ Fée lachte. „Wie denn?“
„Sie ist echt mutig!“, beteuerte Pip, worauf Jacke und ich zustimmend nickten.
Während der Junge nachdachte, spazierte er vor uns hin und her. Glas knirschte unter seinen nackten Fußsohlen, was ihm nichts auszumachen schien. Dann blieb er stehen und durchdrang Fée mit seinem stechenden Blick.
„Ich schenke dir das Buch, wenn du dich traust, eine Neumondnacht lang auf der Burgruine zu verbringen. Die nächste Neumondnacht wäre … übermorgen. Ich warte kurz vor Sonnenuntergang am Spielplatz auf dich. Überleg dir´s gut. Ich habe kein Problem, wenn du nicht kommst, aber ich habe ein Problem, wenn du schreiend nach Hause rennst, einen Schock fürs Leben kriegst und mir dafür die Schuld gibst.“
Falls du dich traust, weiterzulesen, findest du den nächsten QR-Code am Spielplatz beim Parkplatz Schloßbergstraße neben dem Stadtfriedhof.
Du musst deine Schnitzeljagd frühzeitig abbrechen? Hier geht es zum 2. Kapitel.