Datum
24.06.2005
Kategorie
Projekt, Seek&Read, Uncategorized

Eine Spukgeschichte für Fortgeschrittene. Nichts für schwache Nerven.

geschrieben von Irmgard Kramer. Illustration: Marek Bláha.

HINWEIS: ALTERSEMPFEHLUNG dieser Geschichte liegt bei 12 Jahren!

Herzlich willkommen bei Seek&Read – einer literarischen Schnitzeljagd durch Hohenems.
Schön, dass du uns gefunden hast. Du befindest dich auf einem kleinen Abenteuer, denn dieser Weg führt dich nicht nur durch eine schöne Landschaft, sondern auch durch eine spannende, an manchen Stellen vielleicht sogar gruselige Geschichte, geschrieben von Irmgard Kramer.
Du wirst auf diesem Weg insgesamt zehn QR-Codes finden, schau genau, denn manche sind versteckt. Solltest du zufällig über einen QR-Code gestolpert sein und du befindest dich inmitten der Geschichte, ist das kein Problem, denn hier beginnt das Abenteuer mit der Einführung und führt dich von der Villa Franziska und Iwan Rosenthal weiter in die Hohenemser Natur.

Viel Spaß bei Seek&Read,

Dein Literaturhaus Vorarlberg

Und jetzt geht es weiter…

6. Die dritte Bank auf dem Weg zur Ruine 

„Pssst!“ Jacke packte mich am Arm. Wir blieben stehen. Jemand summte eine fröhliche Melodie. Ein Mädchen hüpfte um die Kurve auf uns zu und vergewisserte sich, dass ihre große Schleife richtig auf dem Kopf saß. Sie trug ein mitternachtsblaues Kleidchen und Glitzerschuhe. Leichtfüßig sprang sie über Steine und Wurzeln.   

„Hallo“, sagte sie, als sie an uns vorbeisprang.  

„Hallo!“ Fée war die Einzige von uns, die den Mund aufbrachte, während ich nur einen erdigen, hässlichen Fleck im Gesicht des Mädchens wahrnahm. Wahrscheinlich war es nur so ein pelziges Muttermahl. Trotzdem stellte ich mir vor, dass darunter eine Spinne oder sonst etwas brütete und grauste mich zu Tode. Die Schritte und der Gesang des Mädchens verstummten.  

„Schaut mal.“ Pip zeigte durch den Wald nach oben. Ein dünner Schwaden kräuselte sich aus einer Ritze und verhielt sich wie ein schwebender Wurm, der etwas suchte. Erst schlängelte er sich um einen Baumstamm, dann entdeckte er uns, schwebte zu uns herab und schlang sich um unsere Füße. Meine Zehen wurden sofort kalt. Und die Kälte stieg von innen durch meine Adern hoch bis in meine Brust. Es fiel mir schwer zu atmen. 

„Was ist das?“, fragte Jacke.  

„Eine tote Seele natürlich“, sagte Fée. „Eine etwas verwirrte tote Seele, die noch nicht weiß, wo sie hinmuss.“ Sie sah in unsere Gesichter. „Oh, … ihr könnte natürlich auch denken, es sei Nebel. Nebel ist ganz normal, vor allem, wenn es nachts kühl wird im Wald, so wie hier.“   

„Eine tote … Seele?“ Pip schaute auf unsere Füße, die wir nicht mehr sehen konnten, weil sie im Nebelmeer, das sich wie ein Teppich um uns gelegt hatte, verschwunden waren. Da hörten wir ein leises Ächzen. Es klang nicht, als hätte jemand Schmerzen – o nein! Es war das Grauen! Beinahe gleichzeitig ertönte ein leises, schnelles Geräusch. Ein Geräusch so regelmäßig wie das Ticken einer Uhr, die man in einen Wollpullover gewickelt hatte. Padumm. Padumm. Padumm. Es war ein Herz, das da schlug. Eindeutig. Aber keiner wagte das auszusprechen. Nicht einmal Fée. Wir blieben still, lauschten wie hypnotisiert und beobachteten den Nebel, der langsam zu unseren Knien hochkroch. Bald würde er uns verschlingen. Dann waren wir gefangen in der Unterwelt, in der die Herzen toter, verirrter Seelen schlugen. Oh Mann. Wir waren solche Idioten, dass wir uns auf dieses Abenteuer eingelassen hatten. 

„Es kommt von dort!“, sagte Fée, hob einen Fuß aus dem Nebel und stieg die Böschung hinauf.  

„Du willst doch nicht etwa … den Weg verlassen?“, würgte ich hervor.  

„Aber hörst du`s nicht? Da ist eine Seele in Not. Wir müssen sie befreien.“  

„Diese Frau treibt einen in den Wahnsinn“, stöhnte mir Pip ins Ohr und zog mich weiter, Fée hinterher, während ich nach Jackes Arm griff und ihn hinter uns her schleifte. Brombeeren hakten sich in unsere Haut. Brennnesseln verbrannten uns die Finger. Und das vergrabene Herz schlug immer schneller und lauter, je näher wir kamen. Padumm. Padumm. Padumm. Es drang in mich ein. Ich dachte, das Herz müsse zerspringen, so wie mein eigenes. Mir war schwindlig, die Orientierung hatte ich längst verloren, ich hielt mich nur noch an Fée und war froh, meine Freunde neben mir zu haben. Wir stiegen über einen glitschigen Baumstamm. Padumm. Padumm. Padumm. Dort war es. Dicht vor uns. Wind rauschte durch die Blätter. Er blies den Nebel weg. Der Waldboden wurde sichtbar. Wir sahen die frisch umgegrabene Erde und auf einmal wusste ich, dass der braune Fleck im Gesicht des Mädchens kein Muttermahl gewesen war, sondern tatsächlich „nur“ Erde. Sie hatte hier gegraben. Gänsehaut kroch mir über den Nacken. Dieses Mädchen hatte einen Toten vergraben? Mich schauderte. 

„Du willst doch nicht …“  

Aber da war Fée schon auf die Knie gesunken und hatte damit begonnen, mit beiden Händen die Erde wegzuschaufeln. Ich hielt den Atem an und beide Hände vor meine Augen. Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen und ich wusste nicht, wie ich den Anblick verkraften würde, vor allem weil die Leiche möglicherweise schon seit Wochen in der Erde verweste. Zwischen meinen Fingern durch erhaschte ich blondes Haar, das Fée aus der Erde zog. „Oh mein Gott!“ Pip presste sein Gesicht auf meine Schulter, damit er nicht hinsehen musste. Plötzlich verstummte der Herzschlag.  

„Ist es sehr schlimm?“, fragte Jacke gequält.   

„Nein, gar nicht.“ Täuschte ich mich oder schmunzelte Fée? Und weil keiner schrie, wagte ich es nun doch durch meine Finger zu äugen und fasste es nicht.  

Fée hatte eine Barbiepuppe aus der Erde gezogen. Sie schüttelte die Erde ab. Darunter trug sie Glitzerschuhe und ein hübsches mitternachtsblaues Kleid, das so ähnlich aussah wie das des Mädchens. Fée wischte ihr das Gesicht ab. „Na, wer bist du denn, Hübsche?“ Sie zupfte ihr Erdkrümel aus dem grauen Haar und brachte die Schleife in Ordnung. „Hey!“ Fée lächelte uns an. „Sie beißt euch nicht.“ Sie reichte mir die Barbiepuppe. Mich schüttelte es, als würde sie mir ein achtbeiniges, haariges Insekt in die Hand drücken, aber schließlich überwand ich mich und nahm sie entgegen.   

Eigentlich sah sie ganz normal aus. Erleichtert ließ ich meine Schultern sinken. Die Anspannung fiel von mir ab und ich atmete erlöst aus. Im selben Augenblick riss die Barbiepuppe Mund und Augen auf, fauchte mich an und kratzte mir mit der Hand ins Gesicht.  

Ein stechender Schmerz fuhr durch meine Wange. Ich schleuderte sie von mir, krümmte mich jaulend am Boden und brüllte wie am Spieß. So weh tat es gar nicht, aber es tat gut, mir die Angst aus der Brust zu schreien.  

„Ach, so eine ist das“, sagte Fée erzürnt. „Ein hinterlistiges Biest.“ Während Pip und Jacke um mich herumtummelten, stapfte Fée an uns vorbei, hob die Barbie des Grauens auf und verscharrte sie erneut in einem Erdloch. Wieder ertönte ganz leise ein klopfendes, kleines Herz.  

„Hilf mir mal, Jacke.“  

Zu zweit wuchteten sie einen mächtigen Stein auf das Grab. Und noch viele Steine drauf. Und das Herz verstummte. Endlich. Wir kämpften uns eine Schneise zurück auf den Weg.   

„Da steckt was“, sagte Pip und zog einen auf einen dünnen Ast gespießten Zettel von einem Baumstamm. Wir beugten unsere Köpfe drüber und entzifferten: „Ich nehme an, ihr seid schon weinend nach Hause gerannt. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass ihr immer noch nicht aufgekreuzt seid“, stand da gekritzelt. „Ich warte schon seit einer Ewigkeit bei der nächsten Bank. Samuel.“ Der konnte uns mal. Mit einem Jetzt-erst-Recht-Gefühl stiefelten wir trotzig weiter. Dem würden wir schon zeigen, dass wir uns von einer Pilzmumie, einer verfressenen Vampirköchin und einer Horrorbarbie nicht unterkriegen ließen.